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Ich weiß nicht, wie lange ich wegen der Beruhigungsmittel geschlafen hatte, aber als ich wieder aufwachte, war meine tote Familie mein erster Gedanke. Nur, dass ich dieses Mal nicht schrie oder weinte, der Schmerz in meinem Inneren war so stark, dass er mir das Atmen schwer machte und mir die Worte zum Reden nahm. Ich fühlte nur den Schmerzund eine seltsame Leere. Da war einfach nichts mehr. Dr. Bennett hatte eine Psychologin zu mir geschickt, doch ihr Fragen beantwortete ich gar nicht, oder nur mit einem Nicken oder Kopfschütteln.  Alles was ich im Moment wollte, war allein zu sein. Ich wollte keine tröstenden Worte mehr von wildfremden Menschen hören, die glaubten zu wissen, was ich durchmachte. Doch anstatt die Nerven zu verlieren, starrte ich an die Wand oder die Decke und dachte an nichts. „Lyra! Wie geht es Ihnen heute?",fragte mich Dr. Bennett gut gelaunt, wie sie es jeden Tag tat, als sie ins Zimmer kam. „Gut",antwortete ich, wie immer, wenn sie mich fragte. „Irgendwelche Schmerzen?" Ich schüttelte den Kopf. „Ja. Ja! Mein Inneres fühlt sich totan.",fügte meine innere Stimme hinzu. „Sehr gut! Ich denke wir können Sie morgen oder spätestens übermorgen entlassen. Aber ich denke, dass Sie weiterhin zu einem Psychologen gehen sollten, auch wenn Sie nicht wollen, es wird helfen." Ich nickte erneut. „Na schön." Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Man wird Ihnen bald das Frühstück bringen, dieses Mal sollten Sie wirklich etwas essen. Auch das wird helfen, da bin ich mir sicher." Dr. Bennett wartete auf eine Antwort, doch ich schaute nur dem Minutenzeiger der Uhr zu, wie er sich langsam auf die Neun zubewegte. Ich hörte sie seufzen und wie sie sich verabschiedete, bevor sie das Zimmer endlich verließ und mich mit meinem in Teile gebrochenen Leben alleine ließ.

Dr. Bennett hatte Recht behalten, denn kaum war es 9 Uhr gewesen, hatte mir eine Schwester das Essen gebracht. Ich stocherte in dem Müsli herum und schaute es nur missmutig an, ohne auch nur einen Bissen zu essen. Ich wusste ganz genau, in dem Moment in dem ich etwas essen würde, würde mein Magen alles was ich zu mir genommen hatte, wieder hochkant hinaus befördern. Eine Stunde später kam dieselbe Schwester die mir das Essen gebracht hatte und nahm das volle Tablett wieder kopfschüttelnd mit. Ich vegetierte, um genau zu sein, eigentlich nur so vor mich hin. Ab und zu füllten Gedanken meinen leeren Kopf. Meistens dachte ich an Cami, Mom oder Dad. Cami war mein Ein und Alles gewesen. Natürlich, es hatte zwischen uns beiden immer mal wieder dicke Luft gegeben, so wie das bei Geschwistern eben ist, doch ich hatte sie geliebt wie nichts sonst auf der Welt. Ich liebe sie immer noch. Dann war da Mom. Sie war die beste und wahrscheinlich auch coolste Mom gewesen, die es jemals geben wird. Viele Mütter und Töchter hatten immer mehr Differenzen, desto älter die Tochter wurde, doch bei uns war das anders gewesen. Desto älter ich wurde, desto mehr wuchsen wir zusammen. Sie war für mich wie eine Freundin gewesen. Tja, und Dad. Dad war beides gewesen, unglaublich streng und gleichzeitig der lockerste Vater der Welt. Es kam nur auf die Personen an, mit denen ich mich traf. Ich glaube, dass meine Eltern dieses perfekte Mittelmaß zwischen Eltern sein und Freunde sein so gut erfüllen konnten, weil sie beide Psychologen gewesen waren, sie wussten was gut und schlecht für mich und Cami gewesen war. Und sie wussten genau, wie sie uns erziehen mussten um dumme Streitereien oder Phasen in der Pubertät zu vermeiden. Wenn ich nicht an meine Familie dachte, dachte ich an das Tanzen. Ich konnte förmlich spüren wie meine Muskeln begannen zu verkümmern und sah die Muskeln der anderen Tänzer vor meinem inneren Auge stärker werden.

Auch das Mittagessen ließ ich, entgegen Dr. Bennetts Willen, ausfallen. Wahrscheinlich hatte sie sogar Recht, wenn sie sagte, ich sollte endlich etwas essen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden.

Gegen halb 4 klopfte es an die Tür und ich hob verwundert den Kopf. Schwestern klopften nicht, genauso wenig wie Dr. Bennett. „Lyra?"Zwei Personen, ein Mann mit schwarzen, bereits leicht grauen Haaren und Brille und eine brünette Frau im selben Alter, beide etwa Mitte 40, betraten langsam das Zimmer. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich die Gesichter zugeordnet hatte. „Hallo Lyra!" Die Frau, Karen Mendes, schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ihr Lächeln war ernst gemeint, aber ich sah die Trauer und das Mitleid in ihren Augen. Auch der Mann, Manny Mendes, lächelte traurig, blieb allerdings hinter seiner Frau stehen. „Wie geht es dir?" Ich riss mich zusammen und antwortete zum ersten Mal seit einigen Tagen wahrheitsgemäß:"Beschissen." Normalerweise hielt ich mich mit vulgären Worten im Umfeld von Erwachsenen zurück, aber es hätte kein passenderes Wort gegeben.

„Oh Süße, Lyra, was geschehen ist tut uns so Leid." Ich versuchte zu lächeln, erfolglos. Dafür zuckte ich mit den Schultern. „Falls wir dir irgendwie helfen können, ganz egal wie, sag es uns",meldete sich nun Manny zu Wort. „Nein,ist schon-ist schon gut." Ich strich mir eine lose Strähne meiner braunen Haare zurück hinters Ohr und sah die Beiden an. „Nein wirklich Lyra. Wir haben uns auch schon überlegt, dass du gerne abund zu zu uns zum Essen kommen kannst, wenn du willst",erklärte Karen und setzte sich an den Bettrand. „Wir wissen, dass wir nicht deine Eltern ersetzen können und das wollen wir auch gar nicht, aber wir dachten uns, dass dir ein bisschen Ablenkung bestimmt nicht schadet." „Und außerdem",fügte Karen hinzu,"mögen wir dich wirklich gerne,Lyra. Du bist wirklich ein nettes Mädchen und wir wollen dir helfen das alles zu überstehen."

„Danke", brachteich hervor. Das Ehepaar sah mich etwas skeptisch an. „Nein, danke. Wirklich. Ich weiß das zu schätzen. Ich bin nur...ich brauche einfach nur ein bisschen Zeit für mich wenn ich zu Hause bin, denke ich." „Natürlich."Manny schenkte mir erneut ein Lächeln, dieses Mal frei von Mitleid oder Trauer und es tat gut, dieses Lächeln zu sehen. Ich wusste nicht recht, was ich noch sagen sollte, da ich die beiden genaugenommen kaum kannte, doch Gott sei Dank begann Karen schon bald einige Geschichten aus ihrer gemeinsamen Collegezeit mit meinen Eltern auszupacken. Obwohl ich den Schmerz nie ganz vergessen konnte, lenkten mich ihre Erzählungen ab. Ich hörte gespannt zu und ab und zu konnte ich sogar ein wenig Lächeln. Ich war Karen und Manny wirklich dankbar für ihren Besuch. Als sie gehen musste, weil die Besuchszeit zu Ende war, wünschte ich, sie würden noch etwas länger bleiben.

Ich bekam mein Abendessen, aß es nicht, Dr. Bennett kam ein letztes Mal für heute zur Visite und ich war froh, das ein weiterer Tag vorbei war. Als die Uhr 9Uhr abends anzeigte, beschloss ich, schlafen zu gehen. Ich schloss die Augen und beruhigte meinen Atem. Ich merkte bereits, wie ich langsam aber sicher wegdriftete, als ich hörte, wie jemand die Türklinke herunterdrückte.

Ich öffnete die Augen, doch es war keine Schwester. Shawn stand in meinem Zimmer. Seine Wangenknochen schienen noch mehr hervorzutretenals das letzte Mal als ich ihn gesehen hatte, was ihn schmaler erschienen ließ. Sein rechtes Auge war blau gelblich verfärbt und etwas angeschwollen. Seine Wange wurde von einem langen Schnitt geziert und auch seine Lippe war verletzt worden. Er hielt einen Strauß leicht verwelkter Blumen in der Hand und kam jetzt auf mich zu gehumpelt. „Hey!" „Hey?"Ich sah ihn verwirrt an. „Darf ich?" Er warf einen Blick auf das Bett und ich nickte. Ich folgte seinen Bewegungen, als er sich am Ende des Bettes hinsetzte. „Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Ich habe eine Bauchverletzung und darf nicht aufstehen, aber ich habe es mir nicht nehmen lassen dich zu besuchen." Er grinste mich spitzbübisch an. Ich sagte immer noch nichts. „Hier, die sind für dich." Er reichte mir den Blumenstrauß. „Äh danke." Es entstand eine kurze Stille. „Ich wollte sagen, das es mir wirklich Leid tut. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was du gerade durchmachst. Es muss schrecklich sein." Endlich mal jemand, der nicht dachte, er wüsste, was ich gerade durchlebte. „Es ist schrecklich",bestätigte ich. „Ich nehme an, meine Eltern waren heute auch bei dir?" Er wechselte dasThema. Ich nickte. „Ja, sie haben mich besucht." „Ich hoffe sie waren nicht aufdringlich oder so." „Nein, es war...schön mit ihnen zu reden." Er nickte. „Ich weiß, nur manchmal wissen sie nicht, wann es zu viel ist. Vor allem meine Mutter nicht." Er lachte nervös und kratzte sich am Hinterkopf. „Nein, wie gesagt, es hat mich wirklich sehr gefreut. Vielleicht kannst du das ihnen ausrichten." „Natürlich." Shawn schien nichts mehr sagen zu wollen und auch ich sagte nichts. Ich hatte nicht das Gefühl, Smalltalk führen zu müssen, und dazu war ich auch wirklich nicht in der Verfassung. „Ich denke, ich werde gehen. Bevor jemand bemerkt, dass ich mich weggeschlichen habe." Er erhob sich und verzog sein Gesicht unter den Schmerzen. „Ja, ähm, danke nochmal für die Blumen." Er lächelte mich an. „Gute Nacht Lyra." Er ließ die Tür hinter sich zufallen und war verschwunden. „Gute Nacht."

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt