- 26 -

1K 53 13
                                    

In der Sekunde, in der ich meine Augen aufmachte, wusste ich, dass sich dieser Tag anders anfühlte als die anderen. Es hatte nichts damit zu tun, dass sich mein Körper an sich seltsam fühlte, es war eher, der Fakt, dass dieser Tag schon immer etwas besonderes gewesen war.
Es war der 30. Dezember. Camis Geburtstag. Um genau zu sein, wäre es ihr 14. Geburtstag gewesen... wäre gewesen.
Trotz der Tatsache, dass ich mittlerweile kein emotionales Wrack mehr war und nicht mehr pausenlos an den Tod meiner Familie dachte, vermisste ich sie. Natürlich tat ich das. Aber an einem Tag wie diesem spürte ich ihre Abwesenheit noch deutlicher als sonst.
Mein Herz zog sich ein wenig zusammen, als ich meine Beine über die Bettkante schwang. Ich lief ins Bad und drehte das Wasser in der Dusche heiß auf. Während es auf meine Haut prasselte, fragte ich mich, wie ich den heutigen Tag verbringen würde, denn ich wollte und konnte ihn nicht an mir vorüberstreichen lassen wie jeden anderen normalen Tag. Irgendwie wollte ich Cami zelebrieren... ob sie nun hier war oder nicht: Es war immer noch ihr Geburtstag.
Also schlüpfte ich nach dem Duschen in meine "Festtagsbluse", die ich nur an Geburtstagen trug. Für einen kurzen Moment überlegte ich, einen Kuchen zu backen, aber ich ließ den Gedanken wieder fallen. Stattdessen kochte ich mir ein Spiegelei mit Toast und Speck. Dieses Frühstück hatte Mom immer für mich und Cami an unseren Geburtstagen vorbereitet.
"Also ich will mich nicht selber loben, Cami, aber das kommt fast schon an Moms Ei ran", sagte ich lächelnd ins Nichts und seufzte. Nach dem Frühstück hielt ich die Stille im Haus nicht mehr aus und machte in Camis Zimmer eine ihrer CDs an. Ich legte mich auf ihr Bett und atmete den Geruch der Bettwäsche ein. Mit etwas Fantasie roch sie noch nach Cami. Ich starrte an die Decke und lauschte der ruhigen Musik. Mein Kopf war leer, aber mein Herz schlug heftig gegen meine Brust und zog sich immer mehr zusammen. Ich merkte ganz genau wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und versuchte ihn verzweifelt hinunterzuschlucken - erfolglos. Ich wollte an Camis großem Tag nicht weinen, es wäre egoistisch. Doch die Tränen schossen aus meinen Augen, erst langsam und dann schnell. Es fühlte sich alles ganz frisch an und als müsste ich von vorne anfangen, als wäre der Unfall erst einige Tage her. Ich schluchzte so oft, dass ich kaum noch Luft bekam und meine Tränen hatten die Bettdecke bereits durchnässt, als mein Telefon klingelte. Ich griff danach und sah den Namen der einzigen Person auf dem Bildschirm prangen, mit der ich jetzt reden wollte.
"Shawn?", meine Stimme war leise und klang gebrochen.
"Hey Lyra! Wie geht's?"
"Gut", log ich und unterdrückte einen lauten Schluchzer.
"Ich wollte nur wissen, was... Warte?! Weinst du?" Seine Stimme schwang innerhalb einer Sekunde von gut gelaunt auf besorgt um.
"Ja, aber es ist alles gut", winkte ich ab und wischte zur Bestätigung die Tränen von meinen Wangen, auch wenn er das nicht sehen konnte.
"Du weinst, also ist gar nicht alles gut", erklärte er bestimmt. "Was ist los?"
Ich antwortete nicht, da mich ein neues Schluchzer ergriff.
"Scheiß drauf, ich komm vorbei. Ich bin in 10 Minuten da." Ehe ich ihn davon abhalten konnte, hatte er aufgelegt.
Es dauerte tatsächlich nicht mal 10 Minuten, bis Shawn sturmklingelte. Wo immer er zum Zeitpunkt des Telefonats gewesen war, er musste wie ein Verrückter gerast sein, um es so schnell hergeschafft zu haben.
Ich öffnete ihm die Tür und ohne ein Wort zu sagen, nahm er mich erstmal fest in den Arm. "Was ist los?"
"Willst du nicht erstmal reinkommen?" Momentan weinte ich nicht mehr, doch meine Augen waren geschwollen und meine Nase rot und verstopft. Shawn nickte und zog seine Jacke und Schuhe aus. Er lief in die Küche und stützte sich mit den Armen auf der Theke ab. "Du weißt, du kannst mir alles erzählen."
Ich sagte nichts und deutete auf den Kalender der am Kühlschrank hing. Cami hatte vor einigen Monaten mit rotem Edding ihren Geburtstag eingetragen, damit auch ja jeder wusste, wann er war.
"Sie hat heute Geburtstag?"
"Ja. Sie wäre 14 geworden."
Shawn kam näher zu mir und griff nach meiner Hand. "Sie wird heute 14. Weißt du warum?"
Ich schüttelte den Kopf. Sie war tot. Tote altern nicht. "Weil sie hier drin weiterlebt." Er legte meine Hand auf seine linke Brust und ich spürte seinen Herzschlag. "Sie lebt in meinem Herzen weiter, in deinem, in den Herzen aller ihrer Freunde. Sie ist nicht tot." Shawn sah mir intensiv in die Augen und lächelte mich überzeugt an. Ein Lächeln bildete sich auch auf meinen Lippen.
"Ein schöner Gedanke", murmelte ich und kam ihm noch ein Stück näher. Der Abstand zwischen uns betrug kaum 5 Zentimeter.
"Komm her", forderte er mich sanft auf. Eine Sekunde später war die Lücke zwischen uns gefüllt und er hielt mich in seinen starken Armen. "Danke, Shawn. Ich bin dir so unfassbar dankbar", sagte ich leise in sein Ohr. Er schwieg, doch ich konnte sein Lächeln förmlich hören.

Nachdem Shawn mich gestern aufgemuntert hatte und wir fast den ganzen Nachmittag gemeinsam verbracht hatten, musste er leider gehen, da er noch anderes zu tun hatte. Auch wenn ich dann allein gewesen war, ging es mir besser als zuvor und ich schaffte es gut, den Rest des turbulenten Tages hinter mich zu bringen.
Jetzt war es schon später am Mittag des 31. Dezember und ich begann mich für Carolines Silvesterparty zu schminken. Ich hatte keine Lust den Abend zwischen lauter betrunkenen Personen, die ich nicht kannte und meinen Freunden, die mich immer noch mit Samthandschuhen anfassen, zu verbringen, doch es war Carolines Party und ihr zur Liebe ging ich auch hin.
Ich hatte heute lang geschlafen und wurde von einer süßen "Guten Morgen" Nachricht von Shawn geweckt und seitdem schrieben wir den ganzen Tag  hin und her. Gerade trug ich etwas Lippenstift auf als mein Handy wieder vibrierte.

"Schon irgendwelche Pläne für heute Abend?"

Ich las mir die Nachricht durch, wartete mit dem Antworten aber noch einige Minuten.

"Ja, ich bin auf Carolines Party eingeladen...hab aber eigentlich gar keine Lust :("

Shawns Antwort kam sofort zurück:

"Schade.. ich dachte vielleicht könnten wir Silvester zusammen verbringen"

Beim Lesen meiner Nachricht verzog sich mein Mund zu einem Lächeln und mir kam eine Idee.

"Wenn du willst kannst du auch zu der Party kommen! Caroline hat sicher nichts dagegen :)"

Zu meinem Glück stimmte Shawn begeistert zu und ich schickte ihm die Adresse und Uhrzeit, bevor ich losging, da ich schon etwas früher da sein musste, um Caroline zu helfen.
Sie löcherte mich Fragen über Shawn, als ich ihr sagte, er würde auch da sein, doch ich war nicht in der Stimmung zu reden und antwortete auf ihre Fragen nur mit "Ja" und "Nein", sodass sie schnell die Lust verlor. Schon bald trudelten die ersten Gäste ein und aus ein paar vereinzelten Leuten wurde bald eine ganze Menschenmenge und das Haus war gefüllt. Wäre Shawn nicht noch gekommen, hätte ich mich wahrscheinlich still und heimlich vom Acker gemacht, denn die Hälfte der Leute waren jetzt schon mehr als etwas angetrunken. Normalerweise hatte ich nichts gegen Alkohol und trank selbst auch mal was, aber momentan war ich verständlicherweise nicht in Feierlaune.

"Shawn! Gott sei Dank bist du da!", begrüßte ich ihn freudig, als er gegen halb 10 endlich auf der Party erschien.
"Hey! Und tut mir leid, dass ich so spät bin, aber ich musste Aaliyah noch zu einer Freundin fahren."
"Kein Ding", winkte ich ab.
"Willst du was zu trinken?",fragte ich und hoffte er würde nach etwas antialkoholischen fragen.
"Ja, eine Cola wäre echt super." Ich nickte, griff nach seiner Hand und ging mit ihm zur Küche.
"Lyraaaaa!", Caroline stoppte uns. "Is das dein Shawn?" Es war offensichtlich, dass sie auch schon einiges intus hatte.
"Das ist nicht 'mein' Shawn", korrigierte ich mit rotem Kopf. Caroline gab ein gackerndes Lachen von sich, winkte uns zu und verschwand taumelnd im Nebenzimmer.
"Tut mir Leid", sagte ich peinlich berührt, doch Shawn lachte nur.
"Ich hätte nichts dagegen."
"Wogegen?", fragte ich verwirrt nach und reichte ihm einen Becher mit Cola.
"Naja... dein Shawn zu sein." Er setzte seinen Becher an und trank ihn in großen Zügen leer. Ich war noch zu perplex, um etwas zu sagen und gerade als ich mich gefangen hatte und etwas sagen wollte zog er mich ins Wohnzimmer, in dem die Leute tanzten.
"Willst du tanzen?", fragte er.
"Ich glaube nicht dass-"
"Och komm schon", flehte er und sah mich bettelnd an. Ich rollte lachend die Augen und folgte ihm auf die Tanzfläche. Wir tanzten und hatte um ehrlich zu sein Unmengen Spaß. Die Zeit verflog und als ein Luke in den Raum kam und wie verrückt herumschrie, es sei kurz vor 12, sah ich Shawn überrascht an. Wir zogen unsere Jacken und Schuhe an und wollten den Anderen in den Garten folgen als mir etwas in den Sinn kam. "Willst du einen VIP Platz?". Er sah mich neugierig an und nickte. Er folgte mir hoch in Carolines Zimmer, an das ein Balkon anschloss. Er war nicht sonderlich groß, aber hier hatte man definitiv auf die Feuerwerke der Nachbarschaft.
"Bist du bereit fürs neue Jahr?", wollte er wissen und schaute dabei verträumt in den Himmel.
"Es kann ja nur noch besser werden, oder?"
"Ja, aber bist du bereit für neues?", hakte er nach und sah mich an. Ich zuckte mit den Schultern.
"Ich schätze schon. Was ist mit dir?" Sein Blick wich nicht mehr von mir. "Ich bin bereit. Wenn du wüsstest, was ich alles fürs neue Jahr geplant-" Er wurde unterbrochen, als die Menschen unter uns begannen den Countdown zu zählen. Ich beobachtete den klaren Sternenhimmel und wartete darauf, dass der erste Feuerwerkskörper in die Luft geschossen wurde.
"5, 4, 3, 2, 1: Frohes Neues Jahr!"
Mit einem lauten Knall explodierten am ganzen Himmel die Feuerwerke.
"Frohes Neues Jahr, Lyra", wünschte mir Shawn. Ich drehte mich zu ihm, er stand genau neben mir. "Frohes Neues Ja-"
Und in diesem Moment legte er seine Lippen auf meine.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt