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Nachdem ich praktisch die meiste Zeit des Tages in meinem Bett verbracht hatte, um meine Lieblingsserien zu schauen, war es bereits spät geworden. Egal wie oft ich versucht hatte, meine Mutter zu überreden, dem Abendessen mit den alten Freunden konnte ich wohl keineswegs ausweichen. Da wir um 19 Uhr losgehen würden, ging ich schon um 17 Uhr unter die Dusche, um mich dann fertig zu machen. Nachdem meine Haare geföhnt waren, glättete ich sie, wodurch sie gleich viel länger waren. Ich trug auch ein wenig Make-Up auf. Immerhin ging ich aus, also konnte ich mich auch schick machen. Um das Ganze abzurunden, trug ich einen hellen Lippenstift auf und machte mich dann vom Badezimmer auf in mein Zimmer um meinen Kleiderschrank nach einem Outfit zu durchsuchen. Mein Stil war ziemlich simpel. Eigentlich trug ich nur einfarbige Shirts, die manchmal noch einen Aufdruck hatten. Kleider besaß ich einige, auch wenn ich nicht oft ausging. Da ich nicht zu extravagant gekleidet sein wollte, entschied ich mich für ein schwarzes Kleid, das bis übers Knie ging. Damit konnte man immerhin nie etwas falsch machen, oder?
Ich zog mir hohe Schuhe an, obwohl ich es spätestens in ein paar Stunden bereuen würde. Als ich fertig war, ging ich die Treppen nach unten, wo meine Eltern bereits warteten. Auch Cami hatte sich schick gemacht, sofern das als 13-jährige möglich war. Auf ihren Lippen glänzte ein wenig Lipgloss, den sie sich wohl von mir genommen hatte. Das störte mich nicht weiter, solange sie meine Klamotten oder meinen Schmuck nicht nahm.
„Du hast dich ja richtig schick gemacht", sagte meine Mutter und zwinkerte mir zu, worauf ich mit den Augen rollte.
„Wer sind eure Freunde überhaupt?", hakte ich nach.
„Oh, Karen und Manny? Du wirst sie lieben!", warf mein Vater ein.
„Vielleicht kennst du ihren Sohn ja", sagte meine Mutter.
„Wie heißt er denn?"
„Shawn... Shawn Mendes", sagte meine Mutter, als sie sich eine leichte Jacke überzog.
„Noch nie gehört", gab ich schulterzuckend zurück.
„Wer weiß, vielleicht ist er ja was für dich", sagte meine Mutter und grinste mich breit an.
„Mom, nein, okay? Mach das nicht."
„Was denn?", erwiderte sie und warf die Hände in die Luft. „Es könnte doch sein! Du kennst ihn ja gar nicht! Wir haben ihn das letzte Mal vor Jahren gesehen. Vielleicht ist er ja dein Seelenverwandter!"
Meine Mutter glaubte an einen solchen Schwachsinn wie Liebe auf den ersten Blick und Seelenverwandte, während ich da eher eine pessimistische Meinung hatte. Vielleicht gab es ja Seelenverwandte, aber ich glaubte, dass es da mehr als nur einen gab.
„Ist er nicht", erwiderte ich. „Da bin ich mir ziemlich sicher. Können wir jetzt das Thema vergessen und gehen?"
„Okay, okay", sagte meine Mutter und schüttelte leicht den Kopf. „Wenn du und Shawn euch nicht versteht, dann tun das bestimmt Cami und Aaliyah."
„Ich freue mich schon total sie kennenzulernen", jubelte Cami und stürmte zur Haustür heraus. Wenn ich nur ihre Motivation hätte.
Ich folgte meinen Eltern zu unserem Wagen und setzte mich mit Cami zusammen auf den Rücksitz. Mein Vater saß am Steuer und meine Mutter tippte auf dem Beifahrersitz auf ihrem Handy herum.
„Hey, Cami", sagte ich. „Hast du irgendwo meine Kette gesehen?"
„Welche Kette?", fragte sie.
„Du weißt schon, die mit dem Papierflieger dran. Ich habe sie überall gesucht und ich war mir sicher, ich hätte sie auf meine Kommode gelegt", erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Keine Ahnung", gab sie zurück und zuckte mit den Achseln, bevor sie zum Fenster schaute. „Hab sie noch nie gesehen."
Sie konnte mir nie in die Augen sehen, wenn sie mich anlog.
„Cami, wenn du schon meine Sachen nimmst, dann sag es mir gefälligst!"
„Ich habe deine blöde Kette nicht", sagte sie und sah mich dabei nicht an.
„Kinder!", unterbrach meine Mutter. „Diskutiert das bitte nach dem Essen aus, in Ordnung? Wir wollen unsere Ruhe und das Essen genießen."
„Schön", erwiderte ich zögernd und schüttelte den Kopf.
Ich war mir einhundertprozentig sicher, dass Cami meine Kette genommen hatte. Ich hasste es, wenn sie meine Sachen einfach so nahm, ohne zu fragen. Aber wenn sie es schon tat, konnte sie es wenigstens zugeben.
Den Rest der Autofahrt verbrachten wir schweigend. Wir fuhren ein wenig aus der Stadt heraus, über die alte Brücke, von der ich noch nie gewusst hatte, wie sie hieß. Die Fahrt dauerte fast zwanzig Minuten, bis wir vor einem hellbeleuchteten Restaurant anhielten. Meine Eltern stiegen aus, gefolgt von Cami und mir.
„Mark!", sagte meine Mutter. „Da drüben sind sie ja schon!"
Fröhlich winkte sie der Familie zu und ging schnell auf sie zu. Da es schon dunkel geworden war, konnte ich nicht viel erkennen, nur vier Figuren. Als wir dann näher kamen, wurden die Personen langsam klarer. Der Mann, Manny, hatte dunkle Haare und begrüßte sofort meinen Vater. Die Mutter, Karen, hatte braune Haare, die etwa schulterlang waren. Sie fiel meiner Mutter um den Hals.
„Es ist so schön euch endlich wiederzusehen!", schwärmte sie.
Das Mädchen das bei ihnen stand machte ich offensichtlich als Aaliyah aus, die etwa in Camis Alter sein musste. Sie lief sofort zu Cami. In dem Alter fand ich es auch noch einfacher Freundschaften zu schließen.
Nachdem Karen meine Eltern begrüßt hatte, kam sie mit geöffneten Armen auf mich zu. „Lyra! Du bist ja groß geworden. Das letzte Mal als wir dich gesehen haben, warst du noch so winzig!", sagte sie und fiel mir um den Hals, was mich ein wenig überrumpelte.
„Ja, das hat sich nicht geändert", erwiderte ich, um irgendwie eine witzige Anspielung auf meine Größe zu machen, worauf Karen lachte.
„Und witzig ist sie auch noch", sagte Karen und klopfte mir auf den Arm, bevor sie sich umdrehte. Erst jetzt fiel mir ihr Sohn auf, der sich bis jetzt still zurückgehalten hatte. Er trug ein schwarzes Hemd, durch das man seine Muskeln sehen konnte. Seine Haare waren braun und lockig. „Komm her, Shawn. Stell dich vor."
Er trat zu mir und ich wusste nicht wirklich, ob ich ihn mit einer Umarmung begrüßen sollte und es wurde mir klar, dass es ihm genau so ging, als er mir mit einem leicht fragenden Gesichtsausdruck die Hand entgegenstreckte. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie.
„Hey, schön dich kennenzulernen", sagte er.
„Hi", erwiderte ich. Das war mit Abstand der peinlichste Moment meines Lebens.
Offensichtlich hatte auch meine Mutter die peinliche Stille zwischen uns bemerkt. Die Tatsache, dass Shawn viel größer war als ich machte die Situation noch befremdlicher.
„Okay, da gibt es wohl noch einiges an Eis zu brechen", sagte meine Mutter, worauf Shawn lachte und seine Hände in den Hosentaschen vergrub. Zugegeben, er sah wirklich gut aus und vielleicht war er ja auch ganz nett.
„Dann gehen wir mal", kündigte Karen an.
Manny und mein Vater liefen schon vor, gefolgt von Cami und Aaliyah. Shawn, Karen, meine Mutter und ich gingen nach ihnen nach drinnen. Wir wurden zum reservierten Tisch gebracht und setzten uns hin. Wie es das Schicksal wollte, saß ich gegenüber von Shawn, was bedeutete, dass wir entweder die ganze Zeit peinlichen Blickkontakt haben würden oder dass wir praktisch gezwungen waren uns zu unterhalten.
Wir bestellten uns Getränke und eine Zeit lang hörten wir beide beim Gespräch unserer Eltern zu. Doch irgendwann spürte ich seinen Blick auf mir, worauf ich zu ihm sah.
„Also gehst du noch zur Schule?", fragte er nach.
„Nein, ich habe dieses Jahr meinen Abschluss gemacht", sagte ich.
„Ich auch", erwiderte er und lächelte.
„Auf welcher Schule warst du?", hakte ich nach.
„Pine Ridge", erwiderte er, worauf ich nickte. „Und hast du schon irgendwelche Pläne, was du jetzt machen willst?"
„Nein", erwiderte ich. „Also ich tanze Ballett, aber damit Karriere zu machen, ist eigentlich fast unmöglich. Ballerinas gibt es wie Sand am Meer. Und wie sieht's bei dir aus?"
„Ich bin Sänger, oder zumindest wäre ich das gerne", sagte er. „Ich hatte hier schon einige Gigs, aber nichts Großes."
Ich nickte. „Also singst du nur oder spielst du auch irgendwelche Instrumente?"
„Ich spiele mehrere, hauptsächlich Gitarre", antwortete er. „Es ist eben so ein Traum. Ich weiß, dass er sich nicht erfüllen wird, aber-"
„Haben Sie sich schon für eine Speise entschieden?", fragte der Kellner, der soeben an den Tisch getreten war. Um ehrlich zu sein, war ich froh, endlich essen zu können. So müsste ich den peinlichen Smalltalk mit Shawn nicht mehr fortsetzen.

Der Abend ging glücklicherweise schnell dem Ende zu. Während Aaliyah und Cami sich versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben, hatten Shawn und ich keine weiteren Worte gewechselt.
Manny hatte sich bereits verabschiedet, um das Auto vorzufahren und ich war froh, endlich wieder nach Hause zu gehen. Shawn war zwar echt nett gewesen, aber an neuen Freundschaften war ich momentan nicht interessiert, vor allem weil meine Mutter nur versuchen würde, uns zu verkuppeln.
„Sloane, es war so schön! Das sollten wir wirklich öfter machen", schlug Karen vor.
„Unbedingt", erwiderte meine Mutter. „Dann können Aaliyah und Camille sich öfter sehen, obwohl Lyra und Shawn sich ja noch nicht so wirklich getraut haben."
Beide brachen in schallendem Gelächter aus. Ich versuchte mitzulachen und Shawn sah peinlich berührt zu Boden, bevor er seiner Mutter mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zunickte.
Statt mit dem Auto kam Manny zu Fuß auf uns zu. „Karen, das Auto hat mal wieder den Geist aufgegeben."
"Schon wieder?", jammerte Karen. 
„Wir hätten noch einen Platz im Auto frei", wandte mein Vater ein.
„Wie wäre es, wenn ihr Shawn mitnehmt? Dann kann er uns mit seinem Auto abholen", schlug Manny vor.
„Gute Idee", sagte Karen.
„Na dann, nichts wie los!", sagte mein Vater und verabschiedete sich von allen. Meine Mutter verabschiedete sich erneut von Karen und Manny, bevor wir zum Auto losgingen.
Cami lief neben mir her und an ihrem Hals sah ich etwas glitzern.
„Cami, ist das dein Ernst? Du hast die Kette um?", sagte ich.
„Ich fand sie eben schön und hab sie mir genommen!", erwiderte Cami, als sie einstieg und auf der Rückbank in die Mitte rutschte.
Shawn und ich saßen links und rechts von ihr und schon nach kurzer Zeit startete mein Vater den Motor.
„Cami, ich will doch nur, dass du mir Bescheid sagst, wenn du dir meine Sachen nimmst", sagte ich genervt.
Meine Mutter räusperte sich. „Also, Shawn. Deine Mutter hat erzählt, dass ihr in Portugal wart?"
„Ja, wir haben unsere Familie besucht", erwiderte er und lächelte.
„Warum regt dich das so auf? Es ist nur eine Kette", sagte Cami und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich würde mich nicht aufregen, wenn es nur manchmal vorkommen würde, aber du nimmst ständig meine Sachen, obwohl dir das meiste viel zu groß ist und außerdem nicht deines Alters angemessen."
„Hast du irgendwelche Fotos vom Urlaub, Shawn?", versuchte meine Mutter abzulenken.
„Ja, klar", sagte Shawn und zückte sein Handy. Er tippte kurz darauf herum und streckte es dann nach vorne.
„Wow, das sieht ja toll aus!", sagte meine Mutter, auch mein Vater warf einen Blick auf das Bild auf Shawns Handy.
„Du weißt doch gar nicht, was man in meinem Alter trägt", erwiderte Cami.
„Sicherlich nicht meine Klamotten", gab ich gereizt zurück.
Das nächste, an das ich mich erinnern konnte, waren helle Lichter.
„Mark!", schrie meine Mutter hysterisch und dann wurde alles schwarz.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt