Meine Tante und mein Onkel waren wieder abgereist, um sich um ihre Verpflichtungen in New York zu kümmern. Sie hatten mich beide mehrfach gefragt, ob es wirklich in Ordnung wäre, dass sie gehen, was ich nur bestätigt hatte. Jetzt waren die beiden seit einer halben Woche wieder weg und ich hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Caroline hatte mich besucht und mir erneut Mut zugesprochen, was mir zwar gut getan, aber nicht wirklich geholfen hatte. Kaitlyn hatte gesagt, sie würde heute vorbeikommen, um mich aufzumuntern. Auch wenn ich mich kaum an irgendeinem Gespräch mit ihr aktiv beteiligen würde und sie die meiste Zeit reden würde, war es Balsam für meine Seele. Die Gedanken wurden lauter und der Schmerz stärker, wenn ich mich nicht durch irgendetwas ablenkte. Und Kaitlyn gab mir durch ihre Anwesenheit ein Gefühl der Vertrautheit, welches ich sonst nur bei meiner Familie verspürt hatte. Ich nahm eine Rose aus einem der vielen Sträuße, welche meine Tante von der Trauergemeinde als Geschenk angenmommen hatte und sah sie mir an. Sie war von einem sattem, dunklem Rot, dass mich an Blut erinnerte. Ich drehte die zarte Blume in meinen Händen, sie fühlte sich so zerbrechlich an. Es würde mich kaum Kraft kosten den Stiel zu zerbrechen. Wie bei so vielen anderen Dingen dachte ich an Mom, Dad und Cami. Camis Gesichtszüge waren so fein gewesen und ihr Körper hatte so zerbrechlich gewirkt. Er war zerbrechlich gewesen. Schmerz durchzuckte mich, als ein Dorn meine Haut durchdrang. Augenblicklich schoss Blut aus der kleinen Wunde. "Verdammt", fluchte ich und schmetterte die Rose zurück auf den Tisch zu den anderen Blumen. Ich griff nach all den Sträußen und schmiss sie aufgebracht in den Müll, damit ich sie nicht mehr den ganzen Tag anschauen musste.
"Lyra?", Kaitlyn klopfte an das Fenster im Esszimmer und sah mich verwirrt an. Ich zuckte nur mit den Schultern und lief zur Tür, um sie ihr zu öffnen."Hey." Sie lächelte mich an und umarmte mich herzlich. Kaitlyn war schon immer eine Frohnatur gewesen. "Hey." Ich verzog meinen Mund zu einem Lächeln und schaute ihr kurz in die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen. "Was war das denn?" Ihre Hand deutete vage in die Richtung des Mülleimers. Ich zuckte erneut mit den Schultern. "Keine Ahnung... Ich wollte die Geschenke zum Verlust meiner Familie nicht mehr anschauen, sie haben mich an die Beerdigung erinnert. Und die Beerdigung erinnert mich daran, dass meine ganze Familie tot ist." Kaitlyn gab ein zustimmendes Geräusch von sich und kam einen Schritt näher, um mir ermutigend die Hand auf die Schulter zu legen. "Es braucht sowieso niemand so viele Blumen, ganz ehrlich, was will man damit?" Kaitlyns Augen glitzerten, als sie versuchte mich mit diesem Satz aufzumuntern. Zu einem Lächeln wollte ich mich nicht nochmal zwingen, doch ich antwortete: "Stimmt. Du hast Recht." Die Hand von Kaitlyn rutschte von meiner Schulter und sie schaute mich mit schiefem Kopf an. "Okay. Was willst du tun? Einen Film schauen? Einfach nur reden? Irgendetwas bestimmtes?" Sie legte eine kurze Pause ein. "Ach und übrigens, euer Briefkasten quillt fast über. Wahrscheinlich lauter Beileidskarten oder so." Mein Kopf ratterte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich bestimmt sagte: "Ich weiß, was wir heute tun." Kaitlyns fragender Blick traf meinen und ich griff nach ihrer warmen Hand, um sie mitzuziehen. Ich öffnete den Briefkasten und mir fielen erstmal mehrere Karten entgegen. Kaitlyn half mir sie alle auf den Tisch in der Küche zu legen. "Und jetzt?" "Mich macht es unfassbar wütend, dass diese Leute, die ich teilweise nicht mal kennen, meinen, sie wüssten was ich gerade durchlebe. Und da das höchstwahrscheinlich der Inhalt von 95% dieser Karten hier sein wird, zerschneiden wir sie. Keine Ahnung, vielleicht hat es ja etwas therapeutisches oder so..." Meine Idee klang mehr als bescheuert, denn jetzt wo ich sie ausgesprochen hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass Kaitlyn mich jetzt für einen Psychopaten hielt. "Okay, weißt du was? Das ist eine total dumme Idee", nahm ich meinen eigenen Vorschlag wieder zurück. "Nein! Wenn du denkst, es hilft, dann machen wir es. Und sind wir mal ganz ehrlich, war jemals eine deiner Ideen nicht dumm?" Sie sah mich schelmisch grinsend an und dieses Mal musste ich über ihren Kommentar ehrlich lachen. "Und da ist es!", jubelte sie,"Das Lachen meiner besten Freundin." Ich lächelte sie dankbar an und holte zwei Scheren aus einer Schublade. Wir setzten uns und nachdem ich die erste Karte mit dem von mir vermuteten Inhalt gelesen hatte, schnitt ich beherzt in sie hinein. Es war tatsächlich ein gutes Gefühl.
Nachdem Kaitlyn und ich alle Karten zerschnitten und alle Papierfetzten beseitigt hatten, war sie gegangen, da sie noch ins Training musste. Es war schon später geworden und draußen begann es zu dämmern. Ich wanderte durch das leere Haus und strich mit meinen Fingern über die leicht eingestaubten Oberflächen, die meine Mom ansonsten so sauber gehalten hatte. Ich fand mich vor Camis Zimmer wieder. Langsam drückte ich die Klinke herunter. Es sah immer noch genauso aus, wie als ich zum letzten Mal hier gewesen war. Camis süßlicher Geruch hing immer noch in der Luft und ich ließ mich langsam aufs Bett sinken. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich vor meinem inneren Auge sehen, wie sie in ihrem Zimmer herumlief. Ich wünschte sie wäre hier. Mein Blick fiel auf die graue Stereoanlage die auf ihrer Kommode stand. Ich stand wieder auf und schaltete das Gerät ein. Es dauerte einen kurzen Moment bevor die CD gestartet wurde. Die ersten Takte des Liedes wurden abgespielt und ich erkannte es fast sofort. 'Hey Angel' von One Direction schallte leise durch den Raum und in mein Ohr. Es war Camis Lieblingslied von ihrer Lieblingsband gewesen. Ich hatte das Lied nie so gesehen, doch nun war Cami der Engel von dem die Band durchgehend sang. Ich sah mich selbst in dem Spiegel an der Wand an. Meine traurigen, müden Augen trafen die, meines Spiegelbilds und auf einmal überrollte mich der Schmerz wie eine Welle. Hätte ich doch nur irgendetwas an diesem Abend ändern können. Wenn ich auch nur das kleinste Detail verändert hätte, wären sie alle noch am Leben. Es hätte gereicht, wenn ich bevor wir gegangen sind noch einmal auf die Toilette gegangen wäre, oder wenn ich Cami auf die Kette angesprochen hätte, bevor wir losfuhren. Die Fahrt selbst kam mir ins Gedächtnis und mich traf die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Shawn hatte meinen Eltern die Urlaubfotos gezeigt. Mein Vater hatte sich das Foto von Shawn angesehen, obwohl er gefahren war. Hätte Shawn nicht das Bild gezeigt, würde meine Familie leben. Shawn. Shawn war am Tod meiner Eltern und Cami Schuld. Und er war sich dessen wahrscheinlich bewusst. Deswegen war er so nett zu mir gewesen. Meine Augenbrauen verzogen sich vor Wut und im Spiegel sah ich, wie eine einzelne Träne meine Wange hinunterkullerte. Ich griff nach dem leeren Glas, welches ebenfalls auf der Kommode stand und schmetterte es gegen den Spiegel. Unter einem klirrendem Geräusch zersprang das Glas und hinterließ den kaputten Spiegel. Die Wut hatte mich jetzt voll gepackt. Ich räumte sämtliche Gegenstände mit einer Bewegung von der Kommode und riss dann die Schubladen auf. Meine Hände zogen unkontrolliert alles heraus und verteilten es im ganzen Zimmer. Meiner Kehle entdrang ein wütender Schrei, als ich mit meinem Fuß den Schreibtischstuhl umkickte. Ich sah alles nur noch durch einen Schleier der Tränen war. Ich riss die sorgfältig aufgehängten Bilder von der Wand, zerknüllte sie und warf sie auf den Boden. Ich wütete in Camis Zimmer wie ein großer Sturm. Fast das gesamte Regal war nun ebenfalls leer geräumt, als mein Blick auf die bereits leere Stelle fiel, wo die Ballettschuhe gestanden waren, wurden meine Knie weich und ich sank in mich zusammen. Ich ließ den Tränen einfach freien Lauf. Es war eine Mischung aus Trauer und Wut, die mich füllte. Das Zimmer wurde immer mehr in Dunkelheit getaucht, desto länger ich dort zusammengekauert saß und bitterlich weinte. Doch desto länger ich weinte, desto mehr wurde die Trauer von der Wut verdrängt. Shawn war verdammt nochmal Schuld am Tod meiner Eltern, Schuld am Tod von Cami und es interessierte ihn kein bisschen. Das Klingeln der Tür ließ mich zusammenzucken und langsam erhob ich mich.
"Hey Lyra! Wie geht's di- Du hast geweint!" Shawn stand gut gelaunt vor der Tür und wollte ins Haus kommen. Ich versperrte ihm den Weg. "Was willst du hier, Shawn?", presste ich hervor. "Ich dachte, ich besuche dich. Geht es dir wenigstens einigermaßen gut?" Erneut versuchte er, an mir vorbei, ins Haus zu gehen, doch ich blockte auch diesen Versuch ab. Seine schokobraunen Augen trafen meine und sahen mich etwas verwirrt an. "Lyra? Ist was?" "Oh nein, schon gut", winkte ich ironisch ab und sah ihn eiskalt an. "Was-" "Shawn, hör gut zu, denn ich will es nicht wiederholen müssen. Verschwinde einfach!" "Hab ich was falsch gemacht?" "Verschwinde!",ich schrie in an. "Verschwinde einfach!" Bevor er erneut etwas erwidern konnte, schlug ich die Tür zu, doch anstatt ins Schloss zu fallen, wurde sie von Shawns Fuß aufgehalten.
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Deep Waters [german]
Hayran KurguLyras Leben ist beinahe perfekt. Sie muss sich wegen nichts sorgen und kann jeden Tag genießen. Doch von einem Tag auf den Anderen verändert sich alles. Ihre Familie ist in einen tragischen Autounfall verwickelt und sie ist die einzige Überlende, zu...