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Der Schnee rieselte noch immer leise vom grauen Himmel. Die Straßen waren geräumt, doch auf den Wiesen lag noch tonnenweise Schnee. Shawn ging mir nicht aus dem Kopf, egal wie sehr ich es versuchte. Er war so aufmerksam, süß. Als ich die letzte Nacht in meinem Bett gelegen hatte, schloss ich meine Augen und stellte mir vor, er wäre noch bei mir und würde mich im Arm halten.
Meine Laune verschlechterte sich jedoch mit jedem Schritt. Ich konnte den Friedhof schon von weitem sehen. Obwohl ich den Tod meiner Familie inzwischen verkraftet hatte, drehte sich mein Magen um, wenn ich den Friedhof betrat. Ihre Namen auf einem Grabstein zu sehen, machte die ganze Sache so real und das brachte mich darauf zurück, dass sie tatsächlich tot waren.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich den Kiesweg entlanglief. Als ich angekommen war, legte ich Blumen auf das Grab meiner Eltern. Dann kniete ich mich vor Camis Grab und legte einen Strauß Rosen darauf.
"Hey", flüsterte ich, als mir eine Träne die Wange runterlief. "Ich vermisse euch so."
Der Schnee fiel nun in dickeren Flocken vom Himmel, die auf den roten Blumen landeten, die ich auf ihrem Grab platziert hatte. "Nächste Woche wärst du 14 Jahre alt gewesen. Es tut mir so leid, Cami. Ich wünschte, du hättest das miterlebt.
"Falls du jetzt gerade zuhörst... Also... Mir geht es inzwischen besser. Ich komme besser damit klar, obwohl ich euch vermisse. Weihnachten ohne euch war echt scheiße. Shawn hat mich eingeladen. Ich mag ihn wirklich. Ich dachte nur, das würdest du wissen wollen, wenn du jetzt hier wärst", murmelte ich.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. Es war bald Zeit für meinen Termin bei Dr. Wyatt. Mit meinen Stiefeln stapfte ich durch den Schnee und machte mich auf den Weg zur Praxis. Als ich ankam, war ich mit Schnee bedeckt. Ich musste nur kurz warten, bevor ich aufgerufen wurde.
"Lyra", rief Dr. Wyatt fröhlich, als ich zur Tür hereinkam. "Wie geht es dir?"
Ich setzte mich auf einen der Ledersessel ihm gegenüber und lächelte. "Es geht mir gut."
"Wie hast du Weihnachten verbracht?"
"Ursprünglich wollte ich nicht feiern, aber Shawn hat mich zu sich eingeladen. Er wollte nicht dass ich alleine bin", erzählte ich mit einem Lächeln im Gesicht.
"Klingt als wäre es schön gewesen", erwiderte Dr. Wyatt.
"Ja, das war es. Eigentlich dachte ich, ich würde den ganzen Abend heulend auf dem Sofa liegen."
"Das erste Weihnachtsfest ohne deine Familie", murmelte er.
Ich nickte nur. "Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen."
"Es wird einfacher werden", versprach er mir. "Alles wird besser."
"Ich war eben noch auf dem Friedhof", sagte ich. "Glauben Sie, dass sie mich hören können, wenn ich mit ihnen spreche? Ich weiß, diese Frage ist total absurd."
"Das finde ich nicht", erwiderte er. "Sich zu fragen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, ist ganz und gar nicht absurd. Es ist total rational, darüber nachzudenken."
"Glauben Sie daran?"
"Glaubst du daran?", fragte er.
"Ich glaube, dass da schon etwas ist, nur weiß ich nicht genau was. Nur manchmal fühlt es sich so an, als wären sie da. Als könnte ich sie spüren."
Er nickte und schrieb sich etwas auf. "Kommen wir auf Shawn zurück... Gab es zwischen euch nochmals Konflikte?"
"Nein", sagte ich kopfschüttelnd. "Ich kann ihm vertrauen und er versteht mich. Er kümmert sich um mich. Das ist ein schönes Gefühl."
"Sind zwischen euch Gefühle im Spiel?"
"Ehrlich gesagt, ich bin nicht sicher."
"Es ist schön zu hören, dass du in ihm jemanden gefunden hast, der für dich da ist, dich zum Lachen bringt."
"Ich hätte nie gedacht, dass er mir mal so viel bedeuten würde."

Nach dem Gespräch mit Dr. Wyatt, ging ich bei Amandla vorbei. Wir machten Spaghetti zum Mittagessen und schauten eine Folge The Originals während wir aßen.
"Warst du neulich auch zugeschneit?", fragte sie nach, als wir die Teller in die Spülmaschine luden.
"Ja, mit Shawn", erwiderte ich, worauf sie mich geschockt ansah.
"Warum erfahre ich erst jetzt davon?"
Ich lachte. "Tut mir leid."
"Erzähl schon!!!"
"Ich habe ja Weihnachten bei ihm verbracht, weil er nicht wollte, dass ich alleine bin. Er hat mich dann am nächsten Tag nach Hause gebracht und als er gehen wollte, hat er die Haustür nicht mehr aufbekommen. Er ist dann über Nacht geblieben."
"Über Nacht", wiederholte Amandla. "Dazu hätte ich gerne mehr Informationen."
"Wir haben Scrabble gespielt", fing ich an. "Er hat Gitarre gespielt und dann sind wir schlafen gegangen. Ich hatte einen Albtraum und dann hat er sich zu mir gelegt."
"Oh, Mann! Lyra!", sagte sie und sprang hektisch auf und ab. "Der steht voll auf dich."
"Auf mich? Nein, bestimmt nicht", gab ich zurück.
"Und du magst ihn auch, nehme ich an?", fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.
"Ein bisschen vielleicht, okay?"
"Eure Kinder werden bestimmt wunderschön."
"Halt die Klappe", warnte ich sie lachend.
"Hast du heute noch was vor?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Sag mal, wann warst du das letzte Mal Rodeln?", fragte sie nach.
"Keine Ahnung... Ist bestimmt schon Ewigkeiten her."
"Gut, ich rufe Adam an", sagte sie. "Wir gehen Rodeln. Immerhin müssen wir den Schnee doch ausnutzen!"

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt