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Frustriert trug ich meine Tasse Tee zu meinem Schreibtisch und ließ mich auf den Stuhl fallen. Am Morgen hatte ich schon meine Schicht beim Tierarzt erledigt und konnte den Rest des Tages eigentlich entspannen. Nur leider stand Entspannung nicht wirklich auf dem Programm. Die Lage zwischen Shawn und mir war etwas angespannt, seit ich mit ihm über die Universität gesprochen hatte. Keineswegs hatte ich ihn verletzen wollen, doch ich musste doch auch an meine Zukunft denken. Zwar hatten wir uns an dem Tag vertragen, doch ich merkte trotzdem, dass es zwischen uns anders war. Ich verstand, dass Shawn wütend war und nicht wollte, dass ich ging, aber es ging eben auch um meine Zukunft. Jeden Tag wartete ich ungeduldig auf Zusagen der Universitäten. Da mich das ständige Warten nur nervös machte, hatte ich die Tage zuvor nicht mehr meinen Briefkasten gecheckt und auch nicht meine E-Mails. Mein E-Mail Posteingang war leer, weshalb ich ungeduldig an meinem Tee schlürfte. Schließlich beschloss ich doch in den Briefkasten zu sehen. Tatsächlich waren mehrere Umschläge dabei. Zwischen Zeitungen und Rechnungen ragten zwei Umschläge hervor, die mir fast einen Herzinfarkt einjagten. Ich griff nach den Briefen und rannte in mein Zimmer, bevor ich mich wieder an den Schreibtisch setzte. Von diesen zwei Briefumschlägen hing alles ab. Ich nahm zuerst den Umschlag der Uni in Ontario in die Hand und öffnete ihn vorsichtig. Ich atmete tief ein und zog das Papier heraus. Innerlich betend faltete ich den Brief auf und überflog schnell das geschriebene. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich die Worte las, die ich mir erhofft hatte. Sie hatten mich angenommen. Die Tatsache, dass ich auf jeden Fall ein Stipendium hatte, brachte mich sofort zum Lächeln. Ich legte den Brief beseite und starrte das Couvert von Vancouver an. Mein Herz schlug schneller denn je, als ich nach dem Umschlag griff. Vielleicht erhoffte ich mir insgeheim sogar eine Absage, damit ich mich nicht entscheiden müsste. Die Entscheidung zwischen Ontario und Vancouver würde mir nicht schwerfallen. Wie könnte ich mich für Ontario entscheiden, wenn eine renommierte Universität in Vancouver mich wollte? Die schwere Entscheidung sah eher so aus: Vancouver oder Shawn?
Es war eine Entscheidung, die ich eigentlich nicht treffen wollte. Wenn man mir absagen würde, dann wäre ich von dieser Entscheidung befreit, doch wenn es nicht so war...
Mit zitternden Händen öffnete ich den Brief und faltete das Papier auf.

Sehr geehrte Ms O'Brien,

wir freuen uns Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Bewerbungsunterlagen bei uns einen sehr guten Eindruck hinterlassen haben. Schließlich haben wir uns aus einem sehr großen Bewerberkreis unter anderem für Sie entschieden.
Aus diesem Grund möchten wir Ihnen das Angebot machen, ab dem nächsten Semester an der University of Vancouver im Bereich Medizin zu studieren.
Wir hoffen, dass unser Angebot ihre Zustimmung finden wird. Sollten Sie sich für uns entscheiden, möchten wir Sie herzlich als künftige Studentin unserer Fakultät willkommen heißen.

Geschockt ließ ich den Brief fallen und griff sofort zu meinem Handy, um Kaitlyn anzurufen.
Nach wenigen Sekunden hörte ich ihre Stimme am anderen Ende der Leitung. "Hey!"
"Kaitlyn!", rief ich aufgeregt.
"Was gibt's?", fragte sie nach.
"Ich hab die Zusage für Vancouver", erwiderte ich. "Die wollen mich in Vancouver. Kannst du das glauben?!"
"Oh mein Gott, Lyra!", jubelte Kaitlyn am anderen Ende. "Worauf wartest du? Sag zu!"
"Ich muss erst mit Shawn reden", sagten ich und plötzlich lastete wieder ein Stein auf meinem Herzen. Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand so schnell wie es aufgetaucht war.
"Lyra", sagte Kaitlyn am anderen Ende. "Du musst nach Vancouver!"
"Ich weiß, ich weiß."
"Gib diese Chance nicht für ihn auf, hörst du?", ermahnte meine Freundin mich.
"Ich werde mit ihm reden. Ich weiß, dass er das verstehen wird", redete ich mir selbst ein, doch wusste, dass ein weiterer Streit bevorstand.
"Und wenn er es nicht tut, ist es egal. Vancouver ist deine Chance."
"Ich weiß", erwiderte ich seufzend. "Ich muss auflegen, Kaitlyn."
"Okay, schreib mir später!", sagte sie. "Ich bin so stolz auf dich!!!"
Lächelnd legte ich auf und seufzte. Ich musste mit ihm reden. Sofort.

Zwanzig Minuten später stand Shawn vor der Tür. Statt ihn gleich abzuschrecken, hatte ich nur gesagt, er solle doch vorbeikommen. Dass wie ein ernstes Gespräch führen müssten, hatte ich nicht erwähnt.
Lächelnd stand er vor mir und lehnte sich zu mir runter, um mich sanft zu küssen. "Ich hab dich vermisst."
"Ich dich auch", erwiderte ich.
"Ist alles in Ordnung?", fragte er und schloss die Tür hinter sich. Sein Blick war besorgt, weil er mir wohl angemerkt hatte, dass es mir nicht gut ging.
"Wir müssen reden", sagte ich, worauf  er mich verwirrt anblickte.
"Nein", murmelte er. "Wenn du so anfängst, heißt das nichts gutes."
"Komm mit", sagte ich und zog ihn ins Wohnzimmer, damit wir uns hinsetzen konnten.
"Machst du Schluss mit mir?", fragte er plötzlich, worauf ich seine Hand ergriff.
"Nein, Shawn", winkte ich ab. "Es geht um die Uni."
Etwas erleichtert atmete er auf. "Ich dachte echt, du machst Schluss!"
"Ich habe eine Zusage für Ontario bekommen", verkündete ich, worauf Shawns Augen leuchteten.
"Ernsthaft?", jubelte er. "Ich wusste, dass die dich nehmen."
Er kam mir näher, um mich zu küssen, doch ich drückte ihn sanft weg. "Ich habe aber auch eine Zusage von Vancouver."
"Oh", brachte Shawn hervor und sein Griff um meine Hand ließ etwas nach. "Wie wirst du dich entscheiden?"
"Vancouver ist fürs Medizinstudium eine der besten Universitäten", erklärte ich. "Ontario hat natürlich auch Vorteile, aber es ist nicht Vancouver."
"Wow", schnaubte Shawn verächtlich und stand auf. "Du verlässt mich also für eine Universität?"
"Das habe ich nie gesagt", gab ich empört zurück und stand ebenfalls auf. "Ich will nur, dass du mich verstehst."
"Weißt du was, Lyra? Ich verstehe dich nicht."
"Shawn, es geht um meine Zukunft! Wenn ich in Vancouver studiere, dann würden mir so viele Türen offen stehen!"
"Ja und was ist mit mir, Lyra? Wir sind noch nicht lange zusammen und schon willst du mich verlassen?"
"Ich verlasse dich nicht", erwiderte ich. "Das würde ich nicht."
"Du weißt, dass Fernbeziehungen nicht funktionieren", sagte Shawn und blickte mich wütend an. Seine Wangen waren ganz rot und sein Blick verriet mir, dass dieses Gespräch keinen einfachen Verlauf nehmen würde.
"Wenn ich in Ontario wäre, hätten wir auch eine Fernbeziehung", gab ich zurück.
"Ja, aber in Ontario könnte ich dich besuchen. Denkst du, ich könnte ab und zu mal in Vancouver vorbeifliegen? Mit welchem Geld, Lyra?"
"Bewirb dich auch in Vancouver, dann könnten wir das zusammen durchziehen!", schlug ich vor, doch Shawn schüttelte lachend den Kopf.
"Du weißt, dass ich Musik machen will!"
"Ach ja? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du Erfolg hast, Shawn? Vielleicht wird es Zeit dir realistische Zukunftspläne auszudenken!"
"Du bist so egoistisch, Lyra", rief Shawn, seine Stimme voller Wut.
"Hörst du dir eigentlich selber zu?"
Auch ich wurde langsam wütend. "Du willst mir meine Zukunft nehmen, damit ich in deiner Nähe bin. Weißt du eigentlich, wie sich das anfühlt?"
"Weißt du wie es sich anfühlt, wenn deine Freundin bereit ist, dich für ein Studium einzutauschen?", fragte er mich.
"Ich tausche dich nicht ein!", gab ich genervt zurück.
"Du bist so egoistisch. Jetzt versuchst du mir schlecht ins Gewissen zu reden, als würde ich dir deine Zukunft nehmen. Gehöre ich zu deiner Zukunft überhaupt dazu?"
"Shawn, du bist meine Zukunft", antwortete ich, als sich Tränen in meinen Augen bildeten. "Nenn mich egoistisch, aber ich muss auch an mich selbst denken."
"Du kannst nicht nach Vancouver gehen, Lyra. Es wäre selbstsüchtig, sich für Vancouver zu entscheiden, wenn du auch-"
"Mich hält nichts mehr hier, Shawn!", platzte es aus mir heraus. "Es gibt nichts, was mich hier hält. Wann verstehst du das endlich?"
"Was ist mit mir?", fragte er, der Zorn in seinen Augen verwandelte sich in Enttäuschung.
"Shawn, so habe ich das nicht gemeint", wich ich aus und bereute meine Worte bereits.
"Ich glaube, du hast es genauso gemeint wie du es gesagt hast", erwiderte er mit erstickter Stimme. "Vielleicht wäre es besser, wenn ich jetzt gehe."
Er drehte sich um und stürmte aus dem Raum.
"Shawn, warte!", rief ich und lief hinter ihm her. Er war bereits dabei, sich seine Schuhe anzuziehen.
"Shawn", flehte ich ihn an. "Lass uns doch darüber reden!"
"Ich glaube, es ist alles gesagt", murmelte er und griff nach der Türklinke.
"Shawn!" Ich griff nach seinem Arm, worauf er sich umdrehte und mich traurig anblickte. "Kannst du wenigstens versuchen, das zu verstehen?"
Er schüttelte den Kopf. "Ich gehe jetzt."
"Nein!", rief ich. "Das eben ist mir so rausgerutscht, Shawn. Aber es geht hier um meine Zukunft."
"Deine Entscheidung ist einfach, Lyra. Vancouver oder ich. Entscheide dich", sagte er, bevor er sich losriss und zur Tür hinausstürmte.
"Verdammte Scheiße", fluchte ich und ließ mich gegen die Wand fallen. Wie sollte ich mich zwischen Shawn und Vancouver entscheiden? Vancouver war die perfekte Chance auf eine gute Zukunft, aber Shawn gab es nur einmal im Leben.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt