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"Hallo, Lyra", begrüßte mich Dr. Wyatt mit seinem schiefen Lächeln. "Schön dich zu sehen!"
Mit einem kräftigen Händedruck empfing er mich, worauf ich mich setzte.
"Hallo, Alex", erwiderte ich. Dies war inzwischen meine 10. Sitzung beim Psychologen. Ich war froh, dass Dr. Wyatt locker war und ich mich bei ihm wohlfühlte. Wir hatten uns schon ziemlich früh geeinigt, dass wir wie Freunde miteinander sprechen wollten.
"Wie geht es dir?"
"Besser", sagte ich, als sich ein winziges Lächeln auf meine Lippen schlich.
"Das sieht man!", jubelte er. "Ist in der Zwischenzeit irgendwas vorgefallen?"
"Ich bin ausgegangen... Also nicht auf ein Date oder so... Mit Shawn, du weißt schon, der beim Unfall dabei war."
Dr. Wyatt sah mich etwas fragend an. "Das ist ein gewaltiger Fortschritt. Das letzte Mal, als du hier warst, wolltest du nicht über ihn sprechen."
"Ich weiß... Das war falsch... Also, was ich ihm angetan habe", murmelte ich.
"Was genau hast Du ihm angetan?", hakte Alex nach.
"Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne wie eine Psychopatin zu klingen", sagte ich zögernd, worauf er andeutete, dass ich weitersprechen solle. "Ich habe ihn für den Tod meiner Familie beschuldigt."
Alex nickte nur.
"Ich weiß auch nicht, wieso ich das getan habe und wieso ich so wütend auf ihn war."
"Aber ich weiß es", gab Alex zurück. "Hast Du schon von den fünf Phasen der Trauer gehört?"
"Ja", antwortete ich und blickte auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.
"Dann gehen wir die Phasen doch mal durch. Vom Unfall bis zum jetztigen Zeitpunkt", sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Die erste Phase... Verleugnung."
Ich hasste es, wenn wir über den Unfall sprachen. Denn wenn ich darüber nachdachte, dann konnte ich den Schrei meiner Mutter hören, ich spürte die Kälte des eisigen Wassers an meinem gesamten Körper. Tränen bildeten sich in meinen Augen. "Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen kann."
"Du kannst, Lyra. Und du musst."
Ich atmete tief durch und nickte. "Jede Nacht träume ich vom Unfall und manchmal stelle ich mir Szenarien vor, wie ich alles hätte anders machen können. Vielleicht hätte ich sie dann noch retten können."
"Du konntest nichts tun", sagte Alex. "Bei deiner ersten Sitzung hier, hast du geweint, weil du es nicht glauben konntest. Du warst allein und du bist jung. Du hattest Angst vor der Zukunft und vor allem vor der Vergangenheit. Wie hast du dich gefühlt, nachdem du es erfahren hast?"
"Leer", erwiderte ich. "Ich konnte es nicht glauben. Ich habe immer wieder geschrien, dass es nicht möglich war, dass sie nicht tot sein konnten. Ich wollte mit niemandem sprechen, weil niemand das verstehen konnte. Niemand auf der Welt konnte in dem Moment schlimmeres empfinden."
"Verleugnung", fügte Alex hinzu.
"Und was ist die zweite Phase?"
"Zorn", sagte er. "Du warst seit ein paar Wochen nicht mehr hier. Ich habe also vieles verpasst."
"Es war so seltsam. Ich habe so viel geweint, bis keine Tränen mehr kamen. Und mein Kopf pochte wie verrückt vom Nachdenken. Ich musste die Geschehnisse immer wieder überdenken, als wäre mir ein Detail entgangen. Ich brauchte irgendwas... irgendwen, den ich dafür verantwortlich machen konnte. Und dann ist es mir eingefallen. Shawn hatte sich mit meinen Eltern unterhalten. Meine Mutter fragte nach einem Bild aus seinem Urlaub. Mein Vater hat kurz den Blick von der Straße angewendet, um sich das Bild anzusehen. Und dann ist es passiert. Ich habe mich auch mit Cami um eine bescheuerte Kette gestritten, was vielleicht zur Ablenkung meines Vaters beigetragen hat, aber ich hatte nur Shawns Bild im Kopf. Diese ganze Trauer hat plötzlich gebrannt und wurde zu Wut. Ich habe ihn angeschrien und ich war ein Monster zu ihm. Ich habe ihn einen Mörder genannt."
"Und wie hat er reagiert?"
"Ich habe ihn damit ernsthaft verletzt", sagte ich und schüttelte den Kopf. "Ich habe ihn gehasst, ihm das schlimmste gewünscht."
"Das ist vollkommen normal, Lyra. Das Gehirn sucht sich einen Weg, den Schmerz zu lindern, dem Schmerz zu entfliehen. Shawn zu beschuldigen war deine Flucht aus der Realität... Die nächste Phase ist Verhandlung."
"Verstehe ich nicht", murmelte ich.
"Als du Shawn beschuldigt hattest, wie hat sich das angefühlt."
"Befreiend und bedrückend zugleich. Ich dachte, wenn ich ihn nie wieder sehen würde, dann könnte es mir besser gehen."
"Das ist Verhandlung", sagte er und zuckte mit den Achseln. "Und dann folgt die Depression."
"Meine Freunde wollten mich aufmuntern und ich wollte nur ins Bett und mich in die Lieblingsdecke meiner Schwester einkuscheln. Ich konnte nur daran denken, wie beschissen ich mich fühlte und dass das Leben keinen Sinn mehr machte. Meine Familie ist tot, mein Bein war gebrochen, sodass ich nicht tanzen konnte. Es war als würde sich die Welt ohne mich weiterdrehen", erklärte ich.
"Und wie ist es jetzt?"
"Ich weiß es nicht", gab ich zurück, worauf Alex nickte.
"Die fünfte Phase ist die Akzeptanz."
"Ich glaube nicht, dass ich das kann. Meine Familie ist tot. Das kann man doch nicht einfach so akzeptieren..."
"Da hast du recht", erwiderte Alex. "Aber deine Geschichte ist ja noch nicht am Ende. Du hast noch nicht alle Phasen komplett abgeschlossen und es werden immer wieder Zeiten kommen, in denen du Depression spüren wirst oder Zorn. Aber es wird immer weniger schlimm."
Ich nickte sprachlos.
"Ich denke, dass du mit Shawn aus warst, ist ein großer Schritt in Richtung Akzeptanz", lobte Alex.
"Ach ja?"
"Willst du mir davon erzählen?", fragte er nach und lehnte sich in seinem braunen Ledersessel zurück.
"Na schön", sagte ich und räusperte mich. "Nachdem ich Shawn angeschrien hatte, kam er ein paar Tage später betrunken vorbei. Er sagte, es wäre nicht alleine seine Schuld gewesen und ich hätte meine Eltern abgelenkt, indem ich mit Cami stritt. Ich war am Boden zerstört. Erst dann habe ich gemerkt, dass ich daran Schuld habe. Am Tod meiner Familie. Er kam dann wieder, konnte sich nicht daran erinnern, was er mir da an den Kopf geworfen hatte. Ich hatte vor ihm einen kleinen Zusammenbruch."
"Moment!", unterbrach Alex. "Sowas muss ich wissen!"
"Ich dachte nicht, dass es so erwähnenswert ist", erwiderte ich und zuckte mit den Achseln. "Auf jeden Fall habe ich mich bei ihm ausgeweint und er hat mich getröstet, in den Arm genommen. Irgendwie war es für einen kurzen Moment nicht mehr so, als läge die Welt auf meinen Schultern. Wir haben uns einen Film angesehen und er ist mit mir eingeschlafen. Am nächsten Tag haben wir gefrühstückt und waren Eislaufen. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr."
"Das ist schön", sagte Alex und kritzelte etwas auf den Block auf seinem Schoß. "Es ist gut, dass du dich damit beschäftigst!"
"Ich habe ihm Unrecht getan und trotzdem ist er so aufmerksam und nett", sagte ich.
"Bist du noch wütend auf ihn?"
"Ein kleiner Teil von mir schiebt die Schuld immernoch auf ihn. Und ein anderer Teil schiebt die Schuld auf mich."
"Lyra, du magst ihn und du machst gesunde Schritte zur Besserung. Ich glaube, dass es euch beiden gut getan hat. Du musst die Schuld auf niemanden schieben. Ich weiß, du machst es automatisch und man kann es nicht stoppen. Aber wenn es eins ist, das ich dir sagen kann, dann, dass es niemals deine Schuld war, noch Shawns Schuld. Ihr wart zur falschen Zeit am falschen Ort. Keiner von euch hätte das, was passiert ist, verhindern können. Es war wahrscheinlich unvermeidbar."
Tränen bildeten sich in meinen Augen.
"Es ist okay, zu weinen", sagte Alex. "Du darfst nicht ständig über das Was-wäre-wenn nachdenken. Es wird dich zerstören. Es ist passiert, daran lässt sich nichts ändern. Du wirst es nicht vergessen und es wird dich verfolgen, aber jedes Mal wenn du daran denkst, wird es erträglicher. Das verspreche ich."
Mir flossen ein paar Tränen die Wangen hinunter. "Ich bin nur so durcheinander. Ich hatte so viel Spaß mit Shawn und ich kann endlich wieder mit dem Tanzen anfangen... naja, zumindest langsam... Aber irgendwie fühle ich mich schuldig, weil ich noch lebe. Es fühlt sich so an, als müsste ich trauern. Ständig."
"Es ist nicht schlimm, dein Leben wieder zu genießen. Hätte deine Familie gewollt, dass du ständig trauerst und nicht glücklich wirst?"
"Nein", murmelte ich.
"Dann lebe für sie, Lyra. Damit sie stolz wären."
"Ich versuche es", sagte ich und seufzte. "Ich wünschte nur, ich könnte mit meiner Schwester reden. Wir müssten nicht mal reden, es würde reichen, sie nur zu sehen."
"Unsere Sitzung ist leider vorbei, aber warum besuchst du nicht ein paar Orte, die du mit deiner Schwester verbindest? Die Erinnerung an sie und ihr Geist werden in dir weiterleben. Auch wenn sie weg ist, wirst du sie nie verlieren. Loslassen bedeutet nicht, dass du sie vergisst, sondern dass du lernst, ohne sie weiterzuleben."
"Das werde ich", sagte ich.

Der Schnee rieselte sanft vom Himmel und klatschte mir kalt ins Gesicht. Ich zog meine Kapuze ins Gesicht und watete durch die weiße Schneemasse am Boden.
Mich trieb es zuerst ein wenig aus der Stadt heraus. Am Rande des Waldes war ein kleiner See, der zugefroren war. Ich trat mit meinem Stiefel auf das Eis, das unter ihm zerbrach. Dann setzte ich mich auf die Bank neben dem See und starrte auf das Wasser. Immer wenn dieser kleine See zugefroren und stabil genug war, kamen wir mit unseren Schlittschuhen her und fuhren auf dem See umher, obwohl wir öfters mal hinfielen. Ich hatte Camis Lachen buchstäblich im Kopf, als sie beobachtete wie ich auf dem Eis ausrutschte. Ein Lächeln umspielte meine Lippen und ich schloss meine Augen für einen Moment.
Manchmal hatte ich Angst, ihr Gesicht zu vergessen. Immer wieder rief ich mir ihr Gesicht ins Gedächtnis. Natürlich hatte ich Fotos, aber ein Bild konnte niemals alle Details aufzeigen, die ich so an ihr liebte.
Es fing schon an zu dämmern, als ich zum Tanzstudio lief. Ich schloss die Tür auf und war erleichtert, allein zu sein. Ich zog mich um und setzte mich auf den Boden, um mich zu dehnen. Hier war ich immer mit Cami gewesen.
"Ich werde das nie hinbekommen!", meckerte meine Schwester und warf frustriert ihre Hände in die Luft.
Ich lachte auf und nahm sie in den Arm. "Natürlich schaffst du das, Cami! Du darfst nicht aufgeben."
"Aber was wenn ich es nicht hinbekomme?"
"Versuch es einfach!", versuchte ich sie zu motivieren. "Komm, wir gehen die Choreographie nochmal durch. Und dann bekommst du das hin, egal wie oft wir üben müssen!"
Ich lächelte, weil es sich für einen kurzen Moment so anfühlte, als wäre Cami wieder da. Sie hatte nicht aufgeben, also durfte ich das auch nicht. Für sie. Für meine Eltern und vor allem für mich selbst.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt