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Ein paar Tage später saß ich auf dem Sofa und sah etwas fern. Das war der einzige Weg die Leere im Haus ein wenig zu füllen. Ich saß in Camis Decke eingewickelt dort und sah mir einen Film an, den ich mir sonst immer mit meiner Familie angesehen hatte. Obwohl ich mich so alleine fühlte, gab mir diese Tradition ein wenig Geborgenheit.
Als ich mich endlich aufraffte, mir etwas zum Abendessen zu machen, hämmerte es an der Tür. Es war kein normales Klopfen, sondern als hätte jemand mit einem Hammer gegen die Tür geschlagen. Ich starrte vom Türrahmen aus die Haustür an, die nur wenige Meter von mir entfernt war. Erneut hämmerte es drei Mal an der Tür, worauf ich zurückwich und über meine eigenen Füße stolperte und auf dem harten Boden landete.
"Scheiße", fluchte ich und stellte mich wieder auf die Beine. Ich ging in die Küche, um mir ein Messer zu holen, als es wieder an der Tür hämmerte. Irgendwie musste ich mich ja wehren. Ich griff nach dem Messer mit der schärfsten Klinge und ging langsam zur Haustür. Vorsichtig und mit erhobener Waffe öffnete ich die Tür einen Spalt. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich Shawn vor der Tür entdeckte. Seufzend öffnete ich die Haustüre und stellte mich vor ihn, während ich das Messer senkte. Shawn stolperte rückwärts und tat sich schwer, sein Gleichgewicht zu halten.
"Was wolltest du damit?", rief er und zeigte auf das Messer.
"Könntest du leise sein? Es ist schon spät, okay? Ich will nicht, dass die Nachbarn-"
"Wolltest du mich etwa umbringen?", fragte Shawn empört und fasste sich mit der linken Hand aufs Herz.
"Nein, ich bin es nur normalerweise nicht gewöhnt, dass Verrückte mitten in der Nacht an meine Haustür klopfen", sagte ich und legte das Messer auf der Kommode auf dem Flur ab, bevor ich mich wieder Shawn zuwandte. "Und übrigens besitze ich sowas wie eine Türklingel, die macht weniger Lärm. Vielleicht versuchst du es einfach nächstes Mal damit?"
Er starrte verwirrt auf die Türklingel und dann zu mir.
"Weißt du, was noch besser wäre? Wenn es kein nächstes Mal geben würde!", sagte ich und schob die Tür ein wenig zu, doch Shawn hielt sie auf.
"Warte, Lyra", lallte er und öffnete die Tür wieder vollständig. Sein Blick wurde ernster und seine Gesichtszüge verdunkelten sich. "Ich bin gekommen, um mit dir zu reden!"
Ich sah ihn fragend an, worauf er einen Schritt an mir vorbei machte und auf dem Flur stand.
"Habe ich dich reingebeten?", fragte ich genervt und rollte mit den Augen.
Shawn drehte sich um und schwankte dann leicht hin und her, bevor er seinen Zeigefinger auf mich richtete.
"Du hast mich nicht reingebeten, aber ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen und es ist mir egal, ob du es hören willst."
"Na schön", gab ich zurück, obwohl ich nur wollte, dass er verschwindet.
"Du lagst falsch!", rief er. "Weißt du, was du da eigentlich zu mir gesagt hast? Dass ich deine Familie ermordet habe und dass ich an dem Unfall Schuld bin. Und ich habe mir die letzten Tage den Kopf darüber zerbrochen und ich habe den Tag immer und immer wieder Revue passieren lassen und ich habe immer dieses eine Detail gesucht."
"Shawn, wann verstehst du endlich, dass ich will, dass du mich in Ruhe lässt?", erwiderte ich, worauf Shawn mit seiner Faust gegen die Wand schlug. Ich zuckte zurück und beobachtete wie er wütend schnaubte und seine Hand ausschüttelte. Ein wenig Blut war an der Wand und seine Knöchel waren rot und blutig. Shawn atmete tief ein und sah mich dann wieder an. Seine Pupillen waren geweitet, sein Blick dunkel und wütend. Er machte einen Schritt auf mich zu und wirkte plötzlich einschüchternd und bedrohlich.
"Shawn, bitte", murmelte ich. "Du bist betrunken!"
"Weißt du, was das Detail war über das ich mir tagelang den Kopf zerbrochen habe?", rief er. "Deine Kette."
"Meine Kette?", hakte ich verwirrt nach.
"Du hast dich mit deiner Schwester gestritten, weil sie deine Kette genommen hatte. Du hast so lautstark mit ihr gestritten, dass keiner sich konzentrieren konnte, nichtmal dein Vater!", sagte er und schüttelte den Kopf. "Die ganze Zeit habe ich mich von dir beleidigen lassen, du hast mich als Mörder bezeichnet. Du hast mich für den Tod deiner Familie verantwortlich gemacht, dabei bist du die einzige, die schuldig ist!"
Inzwischen trieb es mir die Tränen in die Augen. Der Abend lief wieder an mir vorbei. Ich hatte mich mit Cami gestritten, meine Eltern hatte das gestört. Hatte mein Vater deshalb die Kontrolle verloren? Waren wir nur wegen diesem dummen Streit verunglückt?
"Na sieh mal an, es hat dir die Sprache verschlagen!", rief Shawn und seufzte auf. "Du hast einen Schuldigen gesucht und da ich der einzige war, der mit dir überlebt hat, hast du mich ausgewählt. Du hast mich einer Sache beschuldigt, die du dir selbst nicht eingestehen kannst! Du weißt, dass dieser Streit dumm war und dass die ganze Schuld deine ist! Nur deine! Aber ich habe mich beschuldigen lassen, weil ich dachte, dass du jemanden brauchst, auf den du wütend sein konntest, aber als du mich als Mörder bezeichnet hast, bist du zu weit gegangen! Ich wollte dir ein Freund sein und dir beistehen und du hast mich weggestoßen, weil du deine Familie verloren hast und dir selbst nicht eingestehen kannst, dass du Mitschuld an ihrem Tod hast! Du bist erbärmlich, Lyra."
Er atmete tief ein und aus und starrte mich nur an.
Tränen bildeten sich in meinen Augen.
"Bring jetzt nicht diese Mitleidsnummer. Ich werde nicht einknicken", sagte er und ging an mir vorbei zur Haustür.
"Shawn, warte!", schluchzte ich.
Er drehte sich um und stand nur wenige Zentimeter vor mir. Ich konnte den Alkohol riechen. Wie viel hatte er wohl getrunken?
"Nein, Lyra. Ich warte nicht", gab er zurück. Seine Brust hob und senkte sich schnell. "Du weißt garnicht, was du da gesagt hast, als du es gesagt hast. Und jetzt kannst du es selbst nicht ertragen. Du weißt, es ist war. Wenn ich ein Mörder bin, dann bist auch du eine Mörderin. Du bist daran Schuld, dass du jetzt ein einsames, erbärmliches Leben hast, weil du alle von dir wegstößt und dazu beigetragen hast, dass deine Familie in eisiger Kälte im Wasser verreckt ist. Das ist alles deinetwegen passiert, Lyra. Und jetzt renn mir nicht hinterher, um dich zu entschuldigen oder mich anzuschreien. Dafür ist es zu spät. Du hast mir klargemacht, was du wirklich von mir denkst und jetzt weißt du, was ich von dir halte."
Mein ganzer Körper zitterte, meine Beine hielten das Gewicht meines Körpers kaum noch aus. Ein paar Tränen kullerten meine Wangen hinunter.
"Und du hattest recht. Es sollte kein nächstes Mal geben. Ich denke, es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen", fügte Shawn hinzu. "Nie wieder."
Ich sah ihn mit großen Augen an, doch ich bekam einfach keine Worte heraus. Meine Zunge war in meinem Mund nur noch nutzlos. Ich öffnete meinen Mund, um zu sprechen, doch schloss ihn wieder, als Shawn die Haustür öffnete.
"Leb wohl, Lyra", sagte er und die Tür flog mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss.
"Oh Gott", murmelte ich und vergrub mein inzwischen verheultes Gesicht in meinen Händen. Meine Beine gaben nach und schon saß ich wieder auf dem kalten Fußboden. Es war als wäre ein kalter Wind durch das ganze Haus gezogen. Meine Atmung wurde schneller, ich kam aus dem Schluchzen nicht mehr heraus. Shawn hatte recht. Cami, meine Eltern, sie waren tot, weil ich mich mit meiner Schwester um diese dumme Kette streiten musste, weil ich nicht damit warten konnte. Der Druck auf meiner Lunge wurde immer größer und drückte mir die Luft ab. Ein Feuer loderte in meinem Inneren und verbrannte mich dort, wo es am meisten schmerzte.
"Was habe ich getan?", schluchzte ich, als ich versuchte meine Atmung zu regulieren. Nach etwa 5 Minuten hatte sie sich wieder verlangsamt und ich saß still auf dem Boden. Langsam richtete ich meine Augen zur Decke.
"Es tut mir so, so leid. Ich wollte das doch alles nicht", schluchzte ich, in der Hoffnung irgendwer würde mich hören. Vielleicht Gott, Cami, meine Mom oder mein Dad. "Ich habe mir so ein Leben niemals gewünscht. Was soll ich nur tun?"
Ich atmete tief ein und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. "Ich brauche euch doch. Es tut mir so leid."

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt