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Am nächsten Morgen packte ich meine Tanzschuhe und meine Klamotten in meine Tasche. Nachdem ich mich warm eingepackt hatte, verließ ich das Haus, um mich auf den Weg zum Tanzstudio zu machen. Der Weg dauerte etwa 20 Minuten, aber die nahm ich in Kauf, wenn ich dafür nicht in ein Auto steigen müsste. Zwar hatte ich es mal versucht, mich einfach ins Auto gesetzt, doch sofort gekniffen, nachdem ich den Motor gestartet hatte. Die Erinnerung an den Unfall war einfach noch zu real und zu nah. Irgendwann konnte ich vielleicht wieder fahren, aber noch nicht jetzt. Momentan legte ich alle Wege zu Fuß zurück, was zwar anstrengend war, aber Dr. Wyatt hatte mir gesagt, frische Luft würde mir guttun.
Ich wollte mich mit Kaitlyn treffen, um zu tanzen. Zwar dürfte ich meinen Fuß nicht zu sehr überbelasten, aber ich kannte meine Grenzen und wusste, wann ich aufhören musste. Ich hatte einiges nachzuholen, um in dieser Saison noch mitzutanzen. Zum Glück hatte Kaitlyn sich bereit erklärt, mir die Choreographie beizubringen.
Als ich ankam, wurde ich von der angenehmen, warmen Heizluft umhüllt. Ich zog mich schnell im Umkleideraum an und ging dann ins Studio. Kaitlyn saß auf dem Boden und dehnte sich, während laute Musik aus den Boxen dröhnte.
"Lyra!", rief sie, als sie mich sah. "Endlich bist du da!"
"Tut mir leid, ich bin spät dran", entschuldigte ich mich und setzte mich zu ihr. Auch ich begann mit meinen Dehnübungen. "Ich bin zu Fuß hier."
"Ist das nicht anstrengend für dich, mit dem Bein?"
"Ein wenig, aber es geht schon", winkte ich ab.
"Du willst immernoch nicht ins Auto steigen, oder?"
"Ich schaffe es einfach nicht. Ich kriege schon Herzrasen, wenn ich den Motor starte. Das ist mir einfach zu viel", erklärte ich, worauf Kaitlyn mit eine Hand auf die Schulter legte.
"Ist doch in Ordnung", sagte sie. "Das würde jedem so gehen."

Nachdem wir unsere Session beendet hatten, beschlossen wir noch auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Obwohl ich dieses Jahr nicht wirklich in Weihnachtsstimmung war, wollte ich diese Tradition nicht schleifen lassen. Mit meiner Familie war ich immer zum Weihnachtsmarkt gegangen. Nur weil sie jetzt weg waren, hieß das nicht, dass ich alles was sie an mich erinnerte, vermeiden sollte. Im Gegenteil, Dr. Wyatt fand, dass es eine wunderbare Art war, loszulassen.
"Wie wär's mit Punsch?", schlug Kaitlyn vor.
"Soll das ein Witz sein?", erwiderte ich, worauf sie lachte. "Ich gebe dir einen aus!"
"Das musst du nicht, Lyra", winkte Kaitlyn ab, doch ich unterbrach sie.
"Du bist der Grund, warum ich diese Saison beim Ballett mitkomme. Ich denke, da hast du dir einen Gratis-Punsch verdient."
Wir standen an einem der Stehtische und unterhielten uns. Kaitlyn erzählte mir, wie sie dieses Jahr wie immer zu ihrer Familie nach Vancouver fahren würde, um Weihnachten zu feiern. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter, worauf ich mich erschrocken umdrehte.
"Oh, nein! Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken!", entschuldigte sich Karen, die mich sofort in den Arm nahm.
"Hey", begrüßte ich sie.
"Wie geht es dir, Schätzchen?", fragte sie nach, als gerade Manny und Aaliyah hinter ihr auftauchten. Ich begrüßte sie kurz, bevor ich auf Karens Frage antwortete.
"Mir geht es gut", sagte ich. Das stimmte auch. Durch meine Freunde, durch das Tanzen und auch durch Shawn konnte ich neue Lebenskraft tanken. Natürlich hatte ich einige Momente, in denen ich traurig wurde, aber zurzeit fühlte ich mich gut und konnte es auch so sagen, ohne zu lügen.
"Das freut mich zu hören", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. "Shawn hat uns schon erzählt, dass es dir ein wenig besser geht."
"Naja, es waren schwierige Zeiten, aber es wird mit jedem Tag besser."
Karen lächelte mich mitleidig an, worauf ich mich fragen musste, was Shawn alles erzählt hatte. Hatte er ihnen erzählt, dass ich ihn für den Unfall verantwortlich gemacht hatte? Oder wie ich zusammengebrochen war?
"Falls es irgendwas gibt, dass wir tun können, dann sagst du Bescheid, in Ordnung?"
"Das werde ich", erwiderte ich. "Danke."
Aaliyah traute sich kaum mich abzublicken. So sahen mich viele Menschen an. Als das traurige Mädchen, das seine gesamte Familie verloren hatte. Ich nahm es jedoch keinem übel. Wäre ich an ihrer Stelle, wüsste ich nicht, was ich sagen sollte.
"Weißt du denn schon, was du an Weihnachten machst?"
"Oh, ich werde wahrscheinlich Zuhause sein", antwortete ich.
"Komm doch zu uns", schlug Karen vor. "Wir würden uns freuen, wenn du da wärst."
"Vorallem Shawn", murmelte Aaliyah, worauf Karen ihr einen kleinen Stups in die Seite verpasste.
"Danke für das Angebot, aber das ist für mich wirklich in Ordnung", lehnte ich ihr Angebot ab.
"Okay, aber falls du deine Meinung änderst, sag einfach Bescheid."
"Das mache ich", sagte ich nickend, obwohl ich mir sicher war, dass ich meine Meinung nicht ändern würde. Ich wollte ihnen nicht zur Last fallen.
"Also gut, wir gehen dann mal weiter", kündigte Karen an. "Es war schön dich zu sehen."
"Fand ich auch", gab ich zurück, worauf die Familie sich wieder auf den Weg über den Markt machte. Ich drehte mich wieder zu Kaitlyn, die mich mit erhobenen Augenbrauen ansah.
"Was?"
"Vorallem Shawn", sagte sie und grinste mich an. 
"Halt die Klappe", erwiderte ich lachend.
"Kann das sein, dass er auf dich steht?", hakte meine beste Freundin nach.
"Nein", sagte ich und wurde rot.
"Oh, doch!", ärgerte Kaitlyn mich. "Und wie sieht's bei dir aus? Stehst du auf ihn?"
"Shawn? Nein!", gab ich sofort zurück.
"Na gut", sagte sie und zuckte mit den Achseln. "Versuch es nächstes Mal doch ohne ein Lächeln, wenn du seinen Namen sagst, dann ist es glaubwürdiger."
"Ich hasse dich."

"Hast du schon einen Weihnachtsbaum?", fragte Kaitlyn nach.
"Nein, ich bin sowieso alleine. Ich denke nicht, dass ich einen brauche."
"Du könntest Weihnachten auch mit Shawn verbringen."
"Weißt du was? Holen wir einen Baum!", sagte ich.
Wir liefen zwischen den unzähligen Bäumen hin und her, die der Weihnachtsmarkt zu bieten hatte.
"Okay, Lyra. Auch wenn du Shawn nur freundschaftlich magst, wie kommt es, dass ich noch kein einziges Bild von ihm gesehen habe?"
"Wenn ich es dir zeige, lässt du das Thema dann endlich?"
Sie nickte eifrig.
Ich seufzte und nahm mein Handy zur Hand. Ich öffnete Shawns Profilbild, das ihn und seine Schwester zeigte. Er saß in einem schwarzen Hemd gekleidet auf einer Gartenbank, lachte herzlich und hatte den Arm um seine Schwester gelegt.
"Wow!", schwärmte Kaitlyn. "Der ist ja zum Anbeißen."
Ich seufzte. "Wie findest du den Baum da vorne?"
"Der ist schön", erwiderte sie. "Die Frage ist nur wie wir den zu dir nach Hause bekommen."
"Zu Schade, dass wir keinen Freund mit Pick-Up haben. Oh, warte...", sagte ich und wählte Lukes Nummer.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt