Als ich aufwachte, schmerzten mir sämtliche Glieder. Ich blinzelte durch meine verquollenen Augen und bemerkte, dass ich auf dem Boden eingeschlafen war. Ich fühlte mich wie überfahren und um ehrlich zu sein, wäre ich im Moment lieber tot. Wie lange hatte ich geschlafen? Eine, maximal zwei Stunden? Gedanken an gestern schossen mir durch den Kopf und ich schüttelte ihn, um sie zu vertreiben, obwohl es die Wahrheit war. Jedes einzelne Wort, das Shawn gesagt hatte, war wahr gewesen. Der Fakt, dass er nicht mehr nüchtern gewesen war, machte das Ganze nicht ums geringste besser, denn Betrunkene sagten schließlich immer die Wahrheit. Gestern Abend hatte ich über Shawns Anschuldigung nachgedacht und seine Worte gedreht und gewendet, doch es veränderte nicht die Tatsache, dass er Recht hatte. Allein daran zu Denken schmerzte wie Salz in einer Wunde. Ich hatte meine Familie umgebracht. Ich lebte dieses kaum auszuhaltende Leben aus nur einem Grund und es war nichtmal etwas plausibles. Hätte ich wenigstens bis zu Hause gewartet, oder hätte ich Cami einfach gar nicht auf die Kette angesprochen, säße sie oben auf ihrem Bett, meine Mom stünde in der Küche und mein Dad würde Football schauen. Meine Familie war klischeehaft gewesen, doch ich hätte mir keine bessere vorstellen können. Es klingelte an der Tür und ich richtete mich langsam auf. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich sah aus wie ein Zombie, doch ich öffnete die Tür trotzdem.
"Shawn?" Er schaute mir nichtmal ins Gesicht und stürmte ohne ein Wort ins Haus. Ich verdrehte die Augen und folgte ihm.
"Was tust du hier?",wollte ich wissen. "War ich gestern Nacht bei dir?" Sein Blick war so durchdringend, das es nicht möglich war, ihn abzuwimmeln. "Du erinnerst dich nicht mehr?" Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihn an. "Das tut nichts zur Sache. Lyra, war ich gestern noch hier?" Nervös knetete ich meine Hände, ich war definitiv noch nicht bereit, um dieses Gespräch zu führen. "Ja, warst du." Ich wendete mich ab und griff in die Schublade, um Tee zu holen. In diesem Moment würde ich alles tun, um nicht in sein Gesicht sehen zu müssen.
"Und was habe ich gesagt? Oder hab ich irgendwas schlimmes getan?" Ich stand immer noch mit dem Rücken zu ihm. "Nichts, was von Bedeutung wäre", log ich und schluckte hart. "Lyra, du hast geweint, das kann ich doch sehen. Was habe ich wirklich gemacht?"
Langsam drehte ich mich zu ihm um. "Meine Familie ist gestorben, Shawn. Ich weine so gut wie jeden Tag. Es ist okay."
"Ich bitte dich, meine Mutter hat mir erzählt, dass ich total aufgebracht war als ich heimkam, und dass ich etwas davon gesagt hätte, dass du nun endlich die Wahrheit kennst." Mist, er wusste doch noch mehr als ich gehofft hatte.
"Hör zu Shawn, geh einfach wieder nach Hause und schlaf deinen Kater aus. Mir geht es gut." Ich blinzelte schnell, um die Nässe aus meinen Augen zu vertreiben.
"Das tut es offensichtlich nicht. Rede mit mir, bitte." Ich schüttelte traurig den Kopf. "Ich kann einfach nicht!"
Es war ein hauchiger Ausruf, der mehr als erbärmlich klang. Shawn trat näher zu mir. „Lyra, was? Was habe ich dir gestern Nacht gesagt?", fragte er und sah mich panisch an. Nervös fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und wartete darauf, dass ich etwas antwortete. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Golfball verschluckt, aber trotzdem schaffte ich es irgendwie die Worte für das zu finden, was mich fast die ganze Nacht wachgehalten hatte. „Du hattest Recht mit dem, was du gestern zu mir gesagt hast, Shawn." Ich hielt inne um tief durchzuatmen. „Der Unfall ist nicht deine Schuld gewesen. Ich bin Schuld!" Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich schaute Shawn direkt ins Gesicht. „Meine Eltern, meine Schwester, meine gesamte Familie ist tot und ich bin Schuld daran!" Ich wollte schreien, aber ich war zu nichts mehr als einem zittrigen Krächzen im Stande. „Ich habe sie umgebracht", sprach ich den Gedanken aus, der mir wie ins Hirn eingebrannt war.
„Nein, nein, nein, nein! Lyra, du bist nicht Schuld. Oh Gott, ich bin so ein Idiot!"
Ich musterte Shawn traurig. „Ich habe sie umgebracht", wiederholte ich. Er nahm mein nasses Gesicht in seine Hände und sein intensiver Blick traf meinen. „Du. Bist. Nicht. Schuld." Er betonte jedes Wort extra, um die Bedeutung zu unterstreichen, doch trotzdem waren die Worte bedeutungslos für mich.
„Wenn nicht ich, wer dann?" Bevor Shawn etwas erwidern konnte schrie ich: "Ich habe meine eigene Familie umgebracht! Sie sind tot! Meinetwegen!" Kraftlos sank ich in mich zusammen und begann so zu schluchzen und zu weinen, dass ich kaum noch atmen konnte.
„Lyra?" Ich blendete seine Stimme aus.
„Ich bin Schuld, ich bin Schuld."
„Lyra?" Es war nicht mehr als ein dumpfes Geräusch, ich nahm es kaum war. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als den Schmerz und die Schuldgefühle, die mich von innen auffraßen. Ich merkte wie er sich neben mir niederließ. „Lyra!" Ich spürte die Wärme seines Körpers und ließ mich völlig entkräftet gegen seine Brust fallen. Ich konnte nicht mehr. „Lyra?" Shawns laute, besorgte Stimme war zu einem liebevollem Flüstern geworden. „Es tut mir Leid."

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Deep Waters [german]
FanficLyras Leben ist beinahe perfekt. Sie muss sich wegen nichts sorgen und kann jeden Tag genießen. Doch von einem Tag auf den Anderen verändert sich alles. Ihre Familie ist in einen tragischen Autounfall verwickelt und sie ist die einzige Überlende, zu...