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Alle hatten sich um die Gräber versammelt und sahen nun zu wie die Särge langsam heruntergelassen wurden. Es regnete immer noch in Strömen, doch ich bemerkte die kalten Tropen auf meinem Gesicht, die sich mit meinen heißen, salzigen Tränen vermischten, gar nicht. Ich sah nur auf die Särge und ignorierte die mitfühlenden Blicke auf mir.
"Ich denke du solltest beginnen." Mein Onkel trat zu mir und nickte mit dem Kopf in die Richtung der Schaufel, welche neben der Gräber lag. Es dauerte einen kurzen Moment bis ich nickte und langsam zu der Schaufel humpelte und nach dem nassen Stiel griff. Die drei ausgehoben Löcher waren direkt nebeneinander, zwei große und ein kleineres. Eigentlich waren die Kindergräber in einem anderem Teil des Friedhofs, doch ich hatte gewollt, dass meine Eltern und Cami als Familie begraben werden. Das Wasser perlte an den lackierten Särgen ab und tropfte hinunter. Ich nahm eine erste Schaufel. Für Cami. Ich warf die Erde so sanft wie möglich auf den Sarg und stellte mir Camis feines Gesicht vor. Ich hatte sie nicht gesehen nach ihrem Tod. Mom und Dad auch nicht. Meine Tante hatte mich gefragt, doch ich wollte nicht. Konnte nicht. 
Die nächste Schaufel war für meinen Dad. Bevor ich zu dem Grab meiner Mom ging, um sie endgültig zu verabschieden, blieb ich stehen und holte tief Luft. Ein letzten Blick auf ihre Särge ein letztes leises "Ich vermisse euch so sehr" gefolgt von einem Schluchzer und ich warf die nasse Erde auf den Sarg von Mom und drehte mich weg.

Ich wartete bis jeder einzelne fertig war. Manche machten sich direkt auf den Weg nach Hause oder zum Leichenschmaus, um dem schlechten Wetter endlich zu entkommen, doch ich blieb einfach stehen.

Freunde meiner Eltern, die ich kaum kannte, umarmten mich weinend, alte Mitschüler, mit denen ich nichts zu tun gehabt hatte, sahen mich traurig an und taten so, als wären wir ewig befreundet gewesen und Camis Freunde und deren Eltern redeten davon, was für ein guter Mensch meine Schwester gewesen war.
Sie alle sagten dasselbe. Sie sprachen davon, wie Leid es ihnen tat, was für ein Verlust es war und fragten mich, wie es mir ginge. 
Meine Antwort war ein Nicken, ein aufgezwungenes Lächeln oder ein leises "Danke."

"Kommst du?", fragte meine Tante schließlich,  als sich der Friedhof wieder leerte. Ich schüttelte den Kopf.
"Ich bleibe noch ein wenig. Ich komme nach, denke ich." Meine Tante nickte verständnisvoll und lächelte mich an: "Natürlich, Lyra." "Lass dir Zeit", fügte mein Onkel noch hinzu. Ich sah zu wie ihre Figuren durch den Regen zu nicht mehr vagen Umrissen wurden und schließlich ganz verschwanden.

Plötzlich stoppte der Regen und ich drehte mich verwirrt um. Shawn stand neben mir und hielt mit seinem schwarzem Regenschirm den Regen vom Fallen ab. Ich richtete den Blick wieder auf die Gräber vor mir.

"Du müsstest längst beim Leichenschmaus sein."
Verwundert über seine Bemerkung drehte ich mich doch wieder nach hinten.
"Du doch auch."
Er stand nah bei mir, damit wir gemeinsam unter den Schirm passten und ich spürte wie er mit den Schultern zuckte. "Ich wollte dich nicht allein lassen."
"Du kannst gehen, wirklich. Ich komme schon klar."
Shawn bewegte sich keinen Millimeter.
"Wirklich", beteuerte ich. Meine Tränen waren versiegt, doch der Schmerz in meiner Brust blieb. 
"Ich bleibe." Ich erwiderte nichts mehr und wir standen schweigend unter dem Schirm. Das laute Prasseln des Regens auf dem Schirm bereitete mir eine Gänsehaut und ich bemerkte auf einmal,  dass es kalt war. 
"Weißt du, ich habe dir schonmal gesagt, dass ich mir nicht ansatzweise vorstellen kann, was du gerade durchmachst, doch ich habe nachgedacht und bin auf etwas gestoßen, dass dir vielleicht Hoffnung gibt. Vielleicht ist es etwas, auf das du hinarbeiten kannst, etwas das dich ablenkt."
Nun drehte ich mich vollends zu ihm um, um ihm uns Gesicht zu sehen.  "Das sind jetzt wahrscheinlich die schlechtesten Kondolenzen, die du jemals bekommen wirst, aber  vielleicht hatte es etwas gutes. Ich meine diese Tode, vielleicht waren sie nicht umsonst. Ich meine damit nicht, dass es gut war, dass du deine Familie verloren hast, oder dass der Schmerz verschwindet, was ich damit sagen will ist: Nichts passiert ohne Grund. Und wer weiß, vielleicht geschieht irgendwann in deinem Leben etwas ganz wunderbares, dass nicht passiert wäre, wenn deine Familie nicht gestorben wäre." Shawn machte eine Pause und sah gedankenverloren ins Nichts. "Und jetzt verstehst du das einfach alles nur nicht und alles woran du denken kannst, ist der Schmerz und du fragst dich immer wieder, wieso das ausgerechnet dir zugestoßen ist. Aber wenn es, was auch immer es ist, passiert, hat es endlich alles einen Sinn und du weißt, dass sie nicht umsonst gestorben sind. Denn deine Familie ist nicht umsonst gestorben. Ich bin mir sicher."
Shawns Blick traf meinen. Ich konnte einen Hoffnungsschimmer in seinen schokobraunen Augen sehen.
"Vielleicht." Ich verlor mich in seinen Augen und verfing mich in meinen Gedanken.
"Du zitterst ja", stellte Shawn fest. Ich antwortete nicht. "Ich denke wir sollten gehen."
Ich nickte resigniert und folgte Shawn auf Krücken zum Parkplatz.
Er angelte die Autoschlüssel aus seiner Jackentasche und schloss das Fahrzeug auf.
"Können wir vielleicht nicht.." Ich warf einen Blick auf das Auto, doch Shawn schien meine Andeutung nicht zu verstehen. "Ich meine, können wir laufen?"
Ich konnte förmlich sehen, wie die Glühbirne über seinem Kopf anfing zu leuchten. "Oh! Natürlich."

"Lyra?" Shawn sah mir belustigt hinterher, als ich loslief. "Musst du nicht in die andere Richtung?"
"Nein." Meine Beine trugen mich zielsicher weiter.
"Lyra! Zum Leichenschmaus geht's hier entlang."
"Ich hatte nie vor zum Leichenschmaus zu gehen", gab ich zu. 
"Willst du nach Hause?" Ich nickte und wartete auf Shawn, der mit großen Schritten zu mir eilte. "Ich begleite dich."
"Ich bin dir dankbar, Shawn, aber ich komme schon klar."
"Lass es gut sein, ich lass mich sowieso nicht davon abbringen."
"Na schön", gab ich schließlich nach.
Wir liefen in Stille nebeneinander her, während der Regen langsam schwächer wurde. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die bunten Blätter fielen begann Shawn zu sprechen: "Ich bin froh, dass ich nicht zum Leichenschmaus muss. Um ehrlich zu sein, ich finde diese Tradition ziemlich seltsam. Vor allem der Name. 'Leichenschmaus'." Er lachte leise und blickte zu mir. Ich lächelte ihn an, um ihm ein gutes Gefühl zu geben und antwortete dann: "Ich verstehe es nur nicht. An einer Beerdigung sollte man Zeit haben, um die Verstorbenen zu trauern, stattdessen trifft man sich, um essen zu gehen und muss zwanghaft mit den anderen mitlachen und so tut als wäre alles gut, was es offensichtlich nicht ist."
"Den Teil überlassen wir deinem Onkel und deiner Tante", scherzte er. In meinem Kopf tauchte ein Bild auf von der Trauergemeinde, die sich jetzt wahrscheinlich gut amüsierte und das Essen genoss. Ich war mehr als froh nicht dort zu sein.
"Ja", stimmte ich zu. "Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Beerdigung im kleinen Kreis gehalten. Ich, meine Tante, mein Onkel, unsere engsten Freunde. Es hätte keinen Leichenschmaus gegeben und kein Kaffeekränzchen zu Hause. Denn so wie es jetzt ist, vergisst man, wieso wir eigentlich hier sind. Man vergisst den Tod meiner Eltern und meiner Schwester. Man vergisst meine Eltern und meine Schwester. Das will ich nicht. Sie sollen nicht vergessen werden."
Shawn wusste nicht recht, was er sagen sollte und blieb stumm.
Es tat gut, mit ihm zu reden, deswegen versuchte ich das Gespräch irgendwie wieder in den Gang zu bringen. "Was hättest du getan? Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst?" Er sah mich ziemlich überrascht an. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
"Ich denke, ich würde weinen, schreien, Dinge zerstören. Ich würde es nicht fassen können, dass sie alle weg sind. Und wenn ich den ersten Schock irgendwann verabeitet hätte, würde ich mich ablenken. Wahrscheinlich würde ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sitzen und Gitarre spielen, um an nichts denken zu müssen."
"Klingt nach einem Plan."
Er lachte unsicher. "Kein besonders guter, aber hey, vielleicht hilft  Ablenkung wirklich. Womit würdest du dich ablenken?"
"Tanzen", antwortete sofort. "Aber ich denke damit muss ich noch ein wenig warten." Ich sah auf meinen Gips. "Das tut mir Leid, aber es dauert ja nicht so lang, bis der Knochen wieder ganz ist." Ich zuckte mit den Schultern. "Hoffentlich."
Mittlerweile waren die Wolken ganz von der Sonne verdrängt worden und strahlte fröhlich auf unsere Köpfe.  "Findest du es nicht auch faszinierend, dass alles um uns herum stirbt, aber trotzdem so wunderschön ist?" Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte zu den gelb-roten Baumkronen über uns auf.
"Daran habe ich noch nie gedacht, um ehrlich zu sein, aber es ist ein schöner Gedanke."
Die Sonne ließ die Farben noch kräftiger leuchten und das Geräusch der Blätter unter meinen Füßen war beruhigend.
"Schöne Dinge vergehen immer zu schnell."
Ich dachte an die Zeit mit meiner Familie, und dass ich dachte ich hätte noch so viel mehr.
Shawn nickte zustimmend.

"Also danke fürs nach Hause bringen, Shawn." Ich lächelte ihn höflich an. "Kein Problem." Ich zog den Schlüssel aus meiner Tasche und öffnete die Tür. "Wir sehen uns", sagte er zur Verabschiedung. Er stand, unschlüssig was er tun sollte, vor mir. Ich konnte förmlich sehen, das er gerade innerlich debattierte, ob er mich nun umarmen sollte oder nicht.
"Ja." Ich schenkte ihm ein letztes, kurzes Lächeln und zog dann die Tür vor seiner Nase zu.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt