Der Geruch von Shawns Körper umhüllte mich und hatte etwas beruhigendes an sich. Seine starken Arme zogen meinen Körper näher an seinen. Ich weinte bitterlich in seine Brust und machte sein ganzes Shirt nass, doch er ignorierte es und hielt mich fest. Shawn sagte nichts, er strich mit seiner Hand sanft über meinen Rücken und hatte sein Kinn auf meinem Kopf abgelegt. Es waren keine Worte nötig in diesem Moment und das war ihm bewusst. Allein seine Anwesenheit gab mir Halt, er war der letzte, woran ich mich jetzt festhalten konnte. Bis meine Tränen versiegt waren, hatte es bestimmt eine ganze Stunde gedauert und wir hatten uns keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Noch immer saßen wir Arm in Arm auf dem kalten Boden. Ich befreite mich vorsichtig aus Shawns Armen und richtete mich auf. "Willst du auch was zu Trinken?", fragte ich ihn mit kratziger Stimme. Meine Nase war vom vielen Weinen verstopft und ich fühlte mich krank. Auch Shawn stand auf. "Ja, gerne."
Er folgte mir in die Küche und ich machte Wasser im Wasserkocher warm. "Kamille oder Pfefferminz?" Ich hielt die verschiedenen Teebeutel in den Händen und sah ihm fragend an. Er hatte meine Frage gar nicht bemerkt. Shawn starrte aus dem Fenster und sah den Schneeflocken beim Fallen zu, er war in seiner komplett eigenen Welt. "Shawn?", fragte ich, dieses Mal lauter. Erschrocken schaute er mich an. "Was?"
"Kamille oder Pfefferminz?",wiederholte ich meine Frage.
"Kamille, bitte." Er lächelte mich entschuldigend an und schaute mir zu, wie ich das heiße Wasser in zwei Tassen goss.
"Hier." Er griff nach der Tasse. Ich führte ihn ins Wohnzimmer, wo es wärmer war.
"Willst du drüber reden?",fragte Shawn schließlich, nachdem wir in Stille unseren Tee getrunken hatten. Ich zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht, was es helfen soll." Er nickte langsam und antwortete nichts mehr, doch nach einer weiteren Minute des Schweigens sagte er entschieden: "Aber ich will darüber reden!"
Mein Blick wanderte zu ihm und verweilte in seinen schokobraunen Augen.
"Okay", erwiderte ich unsicher.
"Ich will nur klarstellen, dass das, wie auch immer es formuliert habe, was ich gestern gesagt habe, nicht stimmt. Du bist nicht Schuld. Weder du noch ich. Es ist die Schuld des anderen Fahrers. Und überhaupt nach einem anderen Schuldigen zu suchen, war zwecklos, weil wir beide eigentlich von Anfang an wussten, wer Schuld war. Und ich wollte, dass du weißt, das es mir Leid tut. Dich aus Wut für alles verantwortlich zu machen, war falsch."
"Schon gut, Shawn." Ich lächelte ihn warm an. "Ich bin dir nicht böse und ich bin außerdem über das, was du gestern gesagt hast hinweg, ich weiß, dass ich nicht schuld bin. Und ich weiß auch, dass du nicht schuldig bist." Was ich sagte, war nur zum Teil wahr. Ich wusste mittlerweile, dass ich meine Familie wirklich nicht umgebracht hatte, doch in meinem Kopf spielten sich tausend verschiedene "Was wäre wenn" Szenarien ab, die ich nicht abschalten konnte und die mich zweifeln ließen.
"Sicher?", hakte er nach und blickte mir intensiv in die Augen.
"Ganz sicher", log ich.
Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich schüttelte mich, um die Kälte loszuwerden.
"Ist dir kalt?"
"Ein bisschen." Shawn stand auf und lief zu unserem Ofen. Er begann das Holz zu stapeln und griff dann nach dem Feuerzeug. Es dauerte keine fünf Minuten bevor ein gemütliches Feuer im Ofen prasselte und mir wurde sofort wärmer.
"Besser?", wollte er wissen und setzte sich wieder neben mich.
"Ja, danke!"
Ich starrte in die rot-orangenen Flammen des Feuers und ein Bild meines Vater schoss mir in den Kopf, wie er an einem der letzten Tage, an denen er gelebt hatte, ein Feuer angezündet hatte. Genauso wie Shawn es gerade eben getan hatte. Ein trauriges Lächeln huschte mir über die Lippen, als ich an ihn dachte. "An was denkst du?", riss mich seine Stimme aus den Gedanken.
"An meinen Vater." Ich spürte Shawns Blick auf mir, doch schaute weiter ins Feuer.
"Du vermisst ihn, oder?" Ich blinzelte um die Nässe aus meinen Augen zu vertreiben.
"Jeden Tag. An manchen Tagen mehr und an manchen weniger."
"Und heute?"
"Heute vermisse ich ihn so sehr, dass es schmerzt."
Shawn schwieg kurz, ehe er sagte: "Dann sollten wir dich ablenken."
Ich erhob mich vom Sofa. "Nein, alles gut. Du solltest sowieso gehen. Du musst nicht bleiben." Shawn jedoch blieb einfach sitzen. "Ich habe heute alle Zeit der Welt, also werde ich bleiben."
"Na schön." Ich ließ mich wieder ins Sofa sinken. "Und was willst du tun?" Er dachte kurz nach, dann stand er auf und lief zu dem Regal in dem Unmengen an CDs und DVDs drinstanden. Er studierte die Titel aller Filme und zog dann einen aus dem Regal und hob ihn triumphierend hoch.
"Arielle die Meerjungfrau?" Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen.
"Wie alt sind wir Shawn? 10?"
"Nein, aber für Disney ist man nie zu alt." Er legte die DVD ein und setzte sich neben mich.
"Ernsthaft jetzt?", fragte ich nach und lächelte in seine Richtung.
"Natürlich, und wenn es sein muss, schauen wir heute alle Disney Filme aus diesem Regal an, nur damit ich dieses schöne Lächeln heute noch öfter sehen kann."
Augenblicklich schoss mir die Röte ins Gesicht. "Nein, wirklich. Ich will dich nicht anflirten oder so, aber es ist schön dich Lachen zu sehen, wenn man weiß, was dir passiert ist."
"Danke?" Ich wusste wirklich nicht, was ich hätte antworten sollen. Shawn schenkte mir ein kurzes Lächeln und richtete dann seinen Blick auf den Bildschirm. Es dauerte nicht lang, bis mich die Müdigkeit packte. Ohne nachzudenken legte ich meine Kopf auf Shawns Schulter und rutschte näher zu ihm. Ich sah sein sein Gesicht nicht, doch ich konnte sein Grinsen quasi hören. In dieser Position verweilten wir eine Weile und schon bald konnte ich meine Augen kaum noch aufhalten. Immer wieder döste ich kurz ein und nachdem Arielle ihre Haare mit einer Gabel kämmte, schlief ich komplett ein.

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Deep Waters [german]
FanfictionLyras Leben ist beinahe perfekt. Sie muss sich wegen nichts sorgen und kann jeden Tag genießen. Doch von einem Tag auf den Anderen verändert sich alles. Ihre Familie ist in einen tragischen Autounfall verwickelt und sie ist die einzige Überlende, zu...