Wut baute sich in mir auf. Am liebsten hätte ich seinen Fuß in der Tür zerquetscht. Genervt öffnete ich die Tür wieder ein Stück weit. "Welchen Teil von 'verschwinde' hast du nicht verstanden?", fragte ich und biss die Zähne zusammen.
"Lyra, was ist los?", hakte er nach und warf mir einen besorgten Blick zu. "Du kannst mit mir darüber reden."
Ich blickte an ihm vorbei, nach draußen auf die alte Schaukel die im Garten stand. Er hatte meine Familie umgebracht.
"Ich will nicht reden", sagte ich und wollte erneut die Tür zuschlagen. Dieses Mal war Shawn mir jedoch weit voraus. Er war stärker als ich und hielt die Tür geöffnet.
"Bitte, sprich mit mir", bettelte er schon fast, worauf ich einen Schritt zur Seite machte, damit er das Haus betreten konnte. Zögernd trat er über die Türschwelle und lief den Gang entlang, bis zum Wohnzimmer. Er blieb stehen und sah sich um.
"Schön ist es hier", sagte er und drehte sich zu mir. Seine Hände waren in seiner Hosentasche vergraben und verwirrt blickte er mich an. "Willst du mir jetzt sagen, was los ist?"
"Tu doch nicht so scheinheilig", zischte ich und verschränkte wütend die Arme vor der Brust.
"Ich weiß nicht, wovon du redest, Lyra."
"Der Unfall, davon spreche ich!"
"Hör mal, ich verstehe, dass du wütend bist. Deine Familie ist gestorben und das hat dich natürlich geschockt-"
"Nein!", unterbrach ich ihn. "Du hast keine Ahnung! Du verstehst garnichts. Du hast nichts verloren, aber ich schon! Ich schon!"
"Lyra", murmelte er und trat etwas näher.
"Bleib bloß weg von mir!", rief ich und streckte meine Hand aus, um ihn zu stoppen.
"Wieso denn, Lyra? Was habe ich dir getan?", fragte er, seine Stimme nun auch etwas lauter, wütender.
"Es war alles deine Schuld!", schrie ich ihn an.
"Was war meine Schuld?", hakte er nach, als hätte er inzwischen nicht schon längst verstanden, worum es ging.
"Der Unfall! Dass meine Eltern und meine Schwester tot sind!"
Er sah mich verwirrt an. "Warum sollte das meine Schuld sein?"
"Du warst doch derjenige, der meinen Eltern deine tollen Urlaubsfotos zeigen musste, während mein Vater am Steuer saß", rief ich. Meine Stimme bebte und ich wäre am liebsten explodiert.
"Was kann ich denn dafür, dass dein Vater sich das Bild angesehen hat?", fragte er wütend.
"Jedes Kind weiß, dass man beim Autofahren nicht abgelenkt sein sollte", gab ich zurück. "Du hattest den ganzen Abend Zeit deine bescheuerten Fotos herumzuzeigen! Warum im Auto? Warum konntest du nicht warten?"
"Du machst dich lächerlich", sagte er und lachte auf.
"Du machst dich lächerlich!", erwiderte ich, als mir eine Träne die Wange hinunterlief. Schnell wischte ich sie weg und sprach weiter. "Ich meine, hast du nach dem Unfall nie darüber nachgedacht wie es passieren konnte? Mein Vater war ein guter Fahrer, ein vorsichtiger Fahrer. Hast du dir niemals überlegt, wie abgelenkt er gewesen sein muss, um die Kontrolle zu verlieren und von einer Brücke zu fahren?"
"Wir sind mit einem anderen Wagen kollidert und das hat uns von der Brücke gestoßen!"
"Das ändert nichts an der Tatsache, dass mein Vater abgelenkt genug war, um von der Fahrbahn abzuweichen!"
Er schwieg.
"Du hast drei Menschen auf dem Gewissen, Shawn. Drei Menschen, die mir alles bedeutet haben", sagte ich nun etwas ruhiger. Ich konnte und wollte nicht mehr schreien.
Seine Gesichtszüge wurden weicher und er öffnete seinen Mund ein wenig, um etwas zu sagen, doch entschied sich dann doch zu schweigen.
"Du hast sie umgebracht", sagte ich und wischte mir weitere Tränen weg. "Du bist ein Mörder!"
"Lyra", sagte Shawn, Wut in seinen Augen. "Das kannst du jetzt wirklich nicht vergleichen."
"Warum denn nicht? Oder gibt es da einen Unterschied? Du bist Schuld an ihrem Tod. Das macht dich zum Mörder."
Er wollte etwas erwidern, doch ich unterbrach ihn. "Nein! Sag jetzt nichts! Übernimm Verantwortung für das, was du getan hast und akzeptiere, dass der Tod meiner Eltern und meine Schwester zu 100 % deine Schuld ist."
"Lyra, ich wollte nicht, dass das passiert, okay? Ich habe deinen Eltern die Bilder gezeigt, ohne nachzudenken, aber das gibt dir nicht das Recht mich zu beschuldigen!", sagte er und trat näher zu mir.
"Ach ja?", murmelte ich. "Ich konnte mich nicht von ihnen verabschieden. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Weißt du, Shawn, man hat mir angeboten, sie noch ein letztes Mal zu sehen. Alle drei. Ihre Leichen natürlich. Aber ich wollte nicht. Ich konnte nicht. Und weißt du warum? Weil sie eine Weile dort im Auto gelegen sind. Im Eiswasser. Man hat mir gesagt ihre Leichen sind entstellt, aufgequollen, weil sie zu lange dort im Wasser lagen. Und das ist deine Schuld. Es ist deine Schuld, dass weder meine Mutter noch mein Vater auf die Straße gesehen haben. Es ist deine Schuld, dass sie das Auto nicht kommen sahen. Das hast du zu verantworten! Nur du! Und ich weiß genau, dass du dasselbe denken würdest, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre und du an meiner."
"Lyra, es-"
"Geh jetzt", befahl ich ihm.
"Lass uns doch darüber reden", sagte er und nahm meine Hand in seine. "Du denkst gerade nicht vernünftig. Vielleicht solltest du eine Selbsthilfegruppe besuchen. Mit einem Psychiater darüber sprechen."
Empört zog ich meine Hand weg. "Oh, jetzt schiebst du es auf mich? Du denkst, dass ich irrational denke und dass ich verrückt bin? Schön. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du meine Familie umgebracht hast!"
"Ich habe das nicht so gemeint", versuchte er sich rauszureden.
"Oh, doch. Das hast du. Du denkst, ich brauche einen Psychiater. So hast du es gesagt und so hast du es gemeint. Leider interessiert es mich nicht, was du denkst."
"Lyra, bitte. Denk doch mal nach."
"Das habe ich. Die ganze Zeit kann ich an nichts anderes denken, als an diesen Unfall! Mein Leben könnte jetzt total anders aussehen, wenn du nicht da wärst. Dann würde meine Familie jetzt nämlich noch leben."
"Lyra, ich weiß, das muss schwer sein und du suchst nur nach jemandem, den du für das verantwortlich machen kannst, was passiert ist", sagte er ruhig. "Es fühlt sich bestimmt so an, als läge die ganze Welt auf deinen Schultern und ich kann mir nicht annähernd vorstellen wie du dich momentan fühlen musst, aber ich will dir helfen, okay?"
"Es fühlt sich nicht nur an, als hätte ich die Welt auf den Schultern, es ist so. Und diese Welt bricht Stück für Stück auseinander und irgendwann werde ich unter ihrem Gewicht zerdrückt. Es hat lange genug gedauert, bis ich bemerkt habe, dass du der Grund bist, dass meine Welt zerbrochen ist. Alles bricht zusammen und du bist schuldig. Also hör auf dich rauszureden und hör auf mich zu behandeln, als würdest du mich kennen. Wir kennen uns nicht und wenn ich ehrlich bin will ich dich auch nicht kennen. Und ich will keine Hilfe, besonders nicht von dir."
Ich sah in sein Gesicht, als etwas in ihm zerbrach. Er sah mich mit großen Augen an und bemitleidete mich, was meine Wut nur anfeuerte. Ich wollte kein Mitleid.
"Wenn es das ist, was du willst", sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte.
"Es ist das, was ich will", erwiderte ich. "Ich will, dass du sofort verschwindest."
Shawn nickte und lief an mir vorbei zue Haustür. Als er die Türklinke hinunterdrückte, drehte er sich nochmals um.
"Dann gehe ich", sagte er. "Bist du sicher, dass ich nicht bleiben soll?"
"Ich will dich niemals wiedersehen", gab ich kalt zurück, worauf er traurig nickte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ich brach auf den Boden zusammen.

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Deep Waters [german]
FanfictionLyras Leben ist beinahe perfekt. Sie muss sich wegen nichts sorgen und kann jeden Tag genießen. Doch von einem Tag auf den Anderen verändert sich alles. Ihre Familie ist in einen tragischen Autounfall verwickelt und sie ist die einzige Überlende, zu...