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Ich kam nur langsam wieder zu Bewusstsein. Am Anfang hörte ich nur das monotone, regelmäßige Piepen einer Maschine und ab und zu fremde Stimmen, die sich direkt neben mir unterhielten. Es jagte mir Angst ein, nicht zu wissen, wo ich war und wer diese Menschen waren, doch meine Zunge war zu schwer und ich zu müde, um etwas zu sagen oder zu fragen. Dieser Zustand hielt gefühlte Jahre an und was danach kam, war noch schlimmer. Immer noch unfähig meine Augen zu öffnen oder etwas zu sagen, schaffte ich es nun, unter Anstrengung, meine Finger und Zehen zu bewegen. Die Bewegungen waren schmerzhaft, doch immer wenn die Stimmen zurückkamen, versuchte ich sie dadurch auf mich aufmerksam zu machen; erfolglos. Mit der Zeit wurden auch die Schmerzen stärker und ich ließ es bleiben. Ich weiß nicht, wie lange ich, in meinem eigenen Körper gefangen, auf der harten Matratze lag, doch als ich es endlich schaffte meine Augen zu öffnen, wünschte ich, es nie getan zu haben.

Ich blinzelte, um meine Augen an das grelle Licht des sterilen, weißen Zimmers zu gewöhnen. Durch winzige Spalte betrachtete ich meine Umgebung. Es gab nichts in diesem Raum, was nicht weiß war. Ich lag auf einem Bett, gegenüber von mir zierte eine Uhr die ansonsten kahle Wand. Mühsam drehte ich meinen Kopf und erkannte das kleine Nachttischchen auf dem ein Klemmbrett lag, welches rechts von mir stand. Links von mir, machte ich eine Maschine mit Monitor aus, von der das ständige Piepen kam und Krücken lehnten an der Wand. Daneben stand so eine Stange auf Rädern, an der ein Beutel mit Flüssigkeit gefüllt hing, dessen Schlauch mithilfe einer Nadel mit meinem Handgelenk verbunden war. Das war eindeutig ein Zimmer in einem Krankenhaus.

„Wunderbar! Sie sind aufgewacht." Eine blonde Ärztin kam gut gelaunt ins Zimmer hereingestürmt und nahm das Klemmbrett von dem Nachttisch. „Ich bin Dr. Bennett, ihre behandelnde Ärztin. Wie fühlen Sie sich?" Während sie auf meine Antwort wartete, studierte sie das, was auf dem Klemmbrett stand.
„In Ordnung", krächzte ich.
„Ich werde gleich eine Schwester mit etwas zu trinken schicken." Sie lächelte mich an. „Ihr Bein ist gebrochen, Sie haben eine Gehirnerschütterung und einige Prellungen sowie blaue Flecken, aber ansonsten geht es Ihnen gut. Sie hatten wohl mehr als einen Schutzengel."
Erst jetzt bemerkte ich den schweren Gips um mein Bein. Verwirrt sah ich die Ärztin an. Was war passiert? Wieso war ich hier?
„Haben sie irgendwelche Schmerzen?" Ich nickte benommen. „Keine Sorge, die Schwester wird sich auch darum kümmern." Sie schenkte mir erneut eines ihrer Zahnpasta-Lächeln.
„Was ist pas-" Meine Worte wurden von dem Piepsen eines Gerätes an dem Hosenbund von Dr. Bennett abgeschnitten. Sie nahm es in die Hand und sah auf den kleinen Bildschirm. Ihr Mund verformte sich zu einem stummen „Mist!" und im nächsten Moment war sie aus der Tür.

Ich wartete eine ganze Weile, doch weder die Ärztin, noch eine Schwester kam. Ich schlug die Decke beiseite und starrte auf meinen Gips. Mir wurde erst jetzt bewusst, was es hieß, ein gebrochenes Bein zuhaben. Es hieß nicht tanzen zu können. Seit meiner Kindheit hatte ich beinahe jeden Tag getanzt, und es jetzt auf einmal für einige Wochen nicht mehr zu tun, kam mir unvorstellbar vor. Und mal ganz davon abgesehen, würde ich den anderen Tänzerinnen um Jahre hinterher sein, was ich definitiv nicht wollte. Ich setzte mich auf und der Schmerz, den die unzähligen, blauen Flecken auf meinem ganzen Körper verursachten, durchzog mich. Ich atmete scharf ein und schwang meine Beine trotz der Schmerzen über den Bettrand. Die Krücken lehnten nach wie vor an der Wand und ich griff nach einer von ihnen. Mit der anderen Hand hielt ich mich an der Stange mit Beutel fest, dessen Schlauch mit meinem Arm verbunden war. Ich humpelte zu der Tür, die in das kleine Badezimmer führte. Ich betrat den Nebenraum und schaltete das Licht ein, welches das Zimmer gelb erscheinen ließ. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel und ich betrachtete mein Gesicht. Ich sah ziemlich fertig aus, meine Haut glich der eines Toten, meine Stirn wurde von einer genähten Platzwunde geziert und meine Lippen waren trocken, beinahe so weiß wie der Rest meines Gesichts, und aufgeplatzt. Ich schloss die Augen und atmete so lange tief ein und aus, bis ich mich ruhig fühlte. Dann versuchte ich mich daran zu erinnern, was passiert war, bevor ich in dem Krankenhaus aufgewacht war. In Gedanken ging ich den Abend durch. Wir waren mit den Freunden meiner Eltern und ihren Kindern Essen gegangen, Karen und Mannys Auto hatte eine Panne gehabt. Shawn, ihr Sohn, war daraufhin bei uns mitgefahren. Im Auto fiel mir auf, dass Cami meine Kette trug und wir hatten gezankt. Danach? Ich hatte keine Ahnung. Ich erinnerte mich nur an den markerschütternden Schrei meiner Mutter. Meine Mutter. Mein Vater. Cami. Wo waren sie? Ging es ihnen gut? Panisch öffnete ich die Augen wieder, an meine Familie hatte ich noch gar nicht gedacht. Und wenn ich in einem Krankenhaus war, waren sie das wahrscheinlich auch, vielleicht sogar schlimmer verletzt als ich. Ich taumelte nach hinten, meine Hand griff reflexartig nach dem Handtuch am Handtuchhalter, doch es rutschte herunter und ich knallte auf den harten Boden.

Wie gerufen kam in diesem Moment Dr. Bennett ins Zimmer und sah mich durch die geöffnete Tür am Boden liegen.
„Sind sie gestürzt? Ist Ihnen schwindelig?" Ich musste mich kurz fangen, bevor ich antwortete
„Ja und nein, ich habe nur das Gleichgewicht verloren."
Sie half mir auf die Beine und führte mich zurück zu meinem Bett. „Tut mir Leid, dass ich vorhin so plötzlich losmusste, aber wir hatten einen dringenden Notfall. Sie haben sicherlich einige Fragen." Sie lächelte und bevor ich tatsächlich etwas fragen konnte, sprach sie bereits weiter. „Also, wie bereits gesagt, Sie haben einige blaue Flecken und Prellungen, dagegen bekommen Sie momentan Schmerzmittel. Es könnte sein, dass Sie sich deshalb etwas weggetreten fühlen, das ist vollkommen normal. Den Gips müssen Sie etwa 6 Wochen tragen, bevor Ihr Bein wieder vollkommen funktionstüchtig ist. Und natürlich sollten Sie es in dieser Zeit nicht belasten. Was Ihre Gehirnerschütterung betrifft, würden wir Sie noch gerne ein oder zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten. Noch irgendwelche Fragen?" Ich sah sie mit entgeistertem Blick an. „Ich liege in einem verdammten Krankenhaus und weiß nicht mehr genau, was gestern passiert ist und habe keine Ahnung, wo meine Familie und was mit ihr ist. Was ist passiert? Geht es ihnen gut?" Ich klang hysterischer als ich wollte, aber im Moment war mir das egal. Dr. Bennetts Lächeln begann zu verrutschen, kein gutes Zeichen.
„Es hat Ihnen noch niemand gesagt, was mit Ihrer Familie geschehen ist?" Ich schüttelte energisch den Kopf. Sie setzte sich an den Bettrand und sah mich traurig an. „Sie waren gestern Nacht in einen Autounfall verwickelt. Ihr Auto ist mit einem zweitem Fahrzeug zusammengestoßen und Sie wurden davon von der Brücke in den Fluss geschoben. Ihre Mutter und Ihre Schwester und Ihr Vater sind durch den Aufprall gestorben. Sie waren sofort tot. Nur der Junge hat ebenfalls überlebt. Es tut mir Leid."

Tot. Das Wort hallte in meinem Kopf wieder. „Nein!" Ich sah Dr. Benett wütend und durch Tränen hindurch an. „Sie sind nicht tot! Sie können nicht tot sein!" Sie legte ihr Hand auf meinen Oberschenkel. Cami, Mom, Dad, tot. Das konnte nur ein Albtraum sein. Es musste einer sein. „Nein!" Diesmal schrie ich es. „Nein, nein, nein, nein!" Ich schüttelte den Kopf, um den grausamen Gedanken an meine tote Familie loszuwerden, doch er war eingebrannt. Heiße Tränen liefen ungehindert meine Wangen hinunter und in meinen schmerzvoll verzogenen Mund. Meine Innereien zogen sich zusammen und mein Herz fühlte sich an, als hätte es jemand in Einzelteile zerfetzt. Der Gedanke daran, dass sie alle weg waren, einfach nicht mehr existent, für immer, machte mich krank. Ich entzog meine Beine Dr. Bennetts Hand und zog sie an meinen Oberkörper. „Sie sind nicht tot. Sie sind nicht tot." Ich murmelte den Satz immer und immer wieder, in der Hoffnung, er würde sich auf einmal bewahrheiten, aber das erhoffte Wunder trat nicht ein. Ich schluchzte und weinte und schrie, bis ich an meine Grenzen angelangt war, doch selbst dann hörte ich nicht auf.
„Lyra! Hören Sie zu, Sie müssen sich beruhigen. Es wird alles gut." Dr. Bennett schaute mir intensiv in die Augen.
„Meine Familie ist tot und ich soll mich beruhigen?" Ich brüllte ihr ins Gesicht und schob sie vom Bett. „Verschwinden Sie! Verschwinden Sie einfach!"
Die Ärztin verließ kurz den Raum und ließ mich hysterisch schluchzend zurück. Als sie wiederkam, werkelte sie kurz an dem Schlauch herum, der in meinem Arm endete und ich bemerkte sofort, wie meine Arme und Beine schwer wurden.
„Sie sind nicht tot. Sie dürfen einfach nicht tot sein", nuschelte ich ein letztes Mal, bevor ich in ein tiefes, schwarzes Loch fiel.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt