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Seitdem Shawn mit der Pizza auf meinen Balkon geklettert war und wir uns ausgesprochen hatten, waren einige Tage vergangen und es war eigentlich fast wieder wie vorher zwischen uns. Natürlich nicht ganz, denn die Tatsache, dass da eigentlich etwas zwischen uns war, konnte keiner von uns einfach beiseitelegen. Doch ich ignorierte seine Anrufe nicht mehr und wir schrieben uns wie zuvor mehrere Nachrichten am Tag. Ich wollte es nicht zugeben, aber auch wenn ich mir mittlerweile eingestanden hatte, dass ich definitiv Gefühle für Shawn hatte, vermisste ich ihn unfassbar und kaute nervös auf meinen Fingernägeln bis mein Handy vibrierete und er geantwortet hatte. Es kam mir fast so vor, als hätten sich meine Gefühle für ihn innerhalb der letzten paar Tage vervielfacht. Die Minuten zogen sich in die Länge und jeder Tag kam mir gleich und irgendwie zäh vor. Mir war langweilig und ich wollte nicht Shawn dauernd nach einem Treffen fragen oder so, deshalb langweilte ich mich zu Tode. Da es mittlerweile aber wieder auf das Ferienende hinging und die meisten Geschäfte wieder geöffnet hatten, spielte ich mit dem Gedanken mir einen Job zu suchen. Meine Tante schickte mir jeden Monat Geld und damit kam ich mehr als gut aus, doch mir war klar dass ich ihr erstens nicht ewig auf der Tasche liegen konnte und dass sie mir  zweitens nicht das College finanzieren konnte. Glücklicherweise hatten meine Eltern als ich zwölf wurde darauf bestanden, dass ich mir ein extra Konto anlege, auf dem ich jeden Monat etwas fürs College beiseite legen sollte. Damals hatte ich es als unnötig empfunden, doch jetzt war ich mehr als froh so einen guten Grundbaustein zu haben. Während der alte Arbeitscomputer meines Vaters hochfuhr, lehnte ich mich in dem schwarzen Ledersessel zurück und atmete tief durch. Egal, an was ich dachte, meine Gedanken kreisten immer wieder zurück zu Shawn und jedes Mal wenn ich seinen Namen in Gedanken erwähnte, schlug mein Herz schneller und klopfte wie verrückt gegen meinen Brustkorb. "Okay, jetzt fahr mal einen Gang runter. Er ist nur ein ganz normaler Junge",sagte ich zu mir selbst, bevor ich das Passwort eingab. Für einen kurzen Moment war mein Gehirn tatsächlich von Shawn 'befreit', doch es dauerte genau die Öffnung des Internetbrowsers und die Googlesuche von 'Jobs Pickering', bis meine Gedanken erneut zu Shawn wanderten. Ich zwang mich jede Stellenanzeige, die mich interessierte, aufmerksam zu lesen, doch die Wörter entfielen mir, kaum hatte ich sie gelesen.
"Ach, scheiß drauf!", sagte ich laut. Ich sprang, plötzlich von Energie durchflutet, auf, und eilte zur Garderobe. So schnell wie möglich schlüpfte ich in meine Jacke und Schuhe, bevor ich mir alles anders überlegte. Ich öffnete die Tür, es war kalt und bewölkt und sah sehr nach Schnee aus. Mein Blick wanderte zu unserem Schlüsselkasten. Mein Herz pochte allein bei dem Gedanke Auto zu fahren, so schnell, dass es wehtat. Ich schluckte, griff nach den Schlüsseln für unseren Zweitwagen, hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, und ließ dann die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Ich lief zur Garage und setzte mich nervös in das Auto. Mache ich das gerade wirklich? Ich sah mir im Rückspiegel selbst in die Augen und schloss sie dann für einen Moment. Ich sammelte all meinen Mut und drehte die Schlüssel um. Der Wagen sprang nicht sofort an und ich wäre beinahe wieder ausgestiegen und gelaufen. Vorsichtig und extrem langsam fuhr ich aus der Garage heraus. Mein Blick fiel nun direkt auf die Straße. Ein letztes Mal wischte ich mir die schwitzigen Hände an der Hose ab und trat dann sachte auf das Gaspedal. Ich machte das wirklich. Der Weg zu Shawn war mit dem Auto nicht weit, vielleicht 5 oder 10 Minuten, doch ich schlich so langsam wie es eigentlich ging über die Straßen. Es dauerte einige Minuten, bevor ich mich wieder ans Fahren gewöhnt hatte, doch es war erstaunlich einfacher, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Da mich mein Weg außerdem nicht durch die Stadt sondern eher durch Wohngebiete führte, traf ich somit auch nicht auf allzu viel andere Autos, weshalb ich extrem froh war. Bald schon kam Shawns Haus in Sicht. Ich ließ den Wagen in ihrem Hof zum Stehen kommen und schaltete den Motor aus. Stolz überkam mich, weil ich es geschafft hatte meine Angst zu überwinden, doch dieses Gefühl wurde sofort durch meine erneute Nervosität zunichte gemacht. Bevor ich ausstieg, spielte ich in Gedanken alle mir erdenkbaren Szenarien durch. Wie würde er reagieren? Klar, theoretisch wusste ich, dass er mich nicht von sich wegstoßen würde, weil er ja auch Gefühle für mich hatte, doch dennoch nagten Zweifel an mir.
Ein letzter aufgeregter Blick in den Rückspiegel und ich stieg aus. Um ehrlich zu sein, wäre ich beinahe hingefallen, da meine Beine so zittrig waren. Mit schnellen Schritten ging ich auf die Haustür zu und streckte dann meinen Finger zur Klingel aus. Vielleicht ist ja niemand zu Hause... hoffentlich. Doch kurz nachdem ich die Klingel gedrückt hatte, hörte ich Stimmen aus dem Haus dringen. 
"Ich geh schon!" Jap, das war definitiv Shawn gewesen. Ein paar Sekunden später öffnete er schwungvoll die Tür. "Lyra? Was machst du hier?" Er klang überrascht, aber nicht genervt, mich zu sehen. "Hey...ähm ich wollte-" "Warte? Bist du gefahren?" Er sah mich mit großen, glücklichen Augen an. "Ja, aber-" Erneut unterbrach er mich einfach. "Das ist ja fantastisch!" Shawn nahm mich in den Arm und wirbelte mich euphorisch im Kreis, ehe er mich wieder auf dem Boden abstellte.
"Wie hast du dich dazu aufgerafft?", wollte er wissen. Ich überlegte kurz, es ihm zu erzählen, aber ich war nervös und außerdem sowieso nicht gut mit Worten. Ich umfasste seinen Hals mit meinen Händen, zog ihn zu mir und küsste ihn. Zuerst war er so perplex, dass er den Kuss nicht erwiderte, doch dann drückte er mich sanft weg und sah mir fragend, aber doch grinsend in die Augen. Ich lächelte einfach nur schelmisch zurück. Ohne ein weiteres Wort zog er mich wieder zu sich hin und küsste mich erneut. Mein Körper war so eng an seinen gepresst, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen gepasst hätte. Ich wollte, dass dieser Moment niemals endete. Doch ein Räuspern ließ uns in unserer Bewegung inne halten. Shawn drehte sich um und hinter ihm war Karen zu sehen. 
"Hey, Lyra! Ist schön dich zu sehen", sagte sie und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd. "Mom!", protestierte Shawn, während mir das Blut ins Gesicht schoss.
"Okay, okay, ich bin ja schon weg." Sie winkte mir zu und verschwand wieder im Haus.
"Tut mir Leid, das ist so typisch meine Mutter", entschuldigte sich Shawn peinlich berührt. Ich kicherte nur und zog ihn als Antwort erneut zu mir. Und als seine Lippen erneut auf meine trafen, konnte ich nicht anders, als in den Kuss hineinzulächeln.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt