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An diesem Morgen hatte Dr. Bennett mich mit bester Laune aus dem Krankenhaus entlassen. In ihren Augen funkelten jedoch auch Mitleid und Trauer, als sie mir Termine zur Nachuntersuchung gab. Sie wusste, ich hatte es im Krankenhaus gehasst, aber ich denke, sie wusste auch, dass ich nicht nach Hause wollte. Zwar wollte ich die sterilen, weißen vier Wände meines Krankenhauszimmers verlassen, aber wie sollte ich ein Haus betreten, was sonst immer so voller Leben gewesen war und jetzt nur leer dastand.
Meine Tante und mein Onkel aus New York würden mich besuchen, da sie jedoch noch nicht da waren, fuhr ich mit dem Taxi nach Hause. Sie hatten mir angeboten, ich solle doch einfach im Krankenhaus warten, bis sie da wären, um mich abzuholen, doch ich wollte das Haus zum ersten Mal lieber alleine betreten. Als wir durch die alten Straßen meiner Kindheit fuhren, fingen meine Hände wie verrückt an zu zittern. Meine Herzfrequenz erhöhte sich stetig, je näher wir dem Haus kamen. Das Taxi wurde langsamer und hielt vor dem Haus an. Es fühlte sich an, als wäre ich auf dem Rücksitz festgewachsen und es brauchte viel Überwindung, die Tür zu öffnen. Als meine Beine, zumindest mein ungebrochenes Bein, auf festem Grund standen, durchfuhr mich blitzartig Schmerz.
"Vielen Dank", bedankte ich mich bei dem Fahrer, bevor ich die Autotür zuschlug.
Hinter mir fuhr das Auto weg und ich war alleine. Am Himmel hingen graue Wolken, es war als wären alle Vögel der Welt plötzlich verstummt. Mithilfe meiner Krücken humpelte ich durch das Gartentor und stand nun in unserem Garten. Die alte Schaukel, die mein Vater für mich aufgebaut hatte, als ich noch ein Kind gewesen war, quietschte schräg, als sie im Wind leicht hin und her wippte.
Ich wandte meinen Blick wieder dem Haus zu, dessen Fassade irgendwie grau und traurig schien. Der Weg zur Tür erschien mir so lange, bis ich dann endlich davor stand. Ich spürte wie der Druck in meinem Kopf zunahm, als Tränen sich in meinen Augen bildeten und praktisch darum bettelten, vergossen zu werden. Mit zittriger Hand griff ich nach dem Schlüssel in meiner Jackentasche und drehte ihn im Schloss herum. Ein warmer Windzug kam mir entgegen, als die Haustür aufschwang. Ich setzte einen Schritt in unser Haus und schloss die Tür. Schnell warf ich den Schlüssel auf den Tisch direkt neben der Tür, bevor ich mich gegen sie lehnte. Meine Beine waren zittrig, es fühlte sich an, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen verflüssigt. Meine Lungen standen in Flammen, als ich den Tränen endlich freien Lauf ließ. Schluchzend blickte ich in den leeren Gang unseres Hauses. Irgendwie erwartete ich, dass Cami die Treppen hinunterkam, um mich zu begrüßen, aber egal wie lange ich wartete, niemand kam. Ich atmete tief ein und humpelte mithilfe meiner Krücken in die Küche. Dort lagen noch einige Einkäufe herum, die meine Mutter am Tag des Unfalls eingekauft hatte. Ich räumte mit meiner freien Hand die Einkäufe ein, wie meine Mutter es hätte tun sollen, während ich mich mit einer Krücke stützte. Ich humpelte weiter in das Wohnzimmer, wo der Laptop meines Vaters geschlossen auf dem Sofa lag. Es war gruselig, wenn alles so still im Haus war. Alles was man hören konnte, waren meine Schritte auf dem Parkettboden. Ich stand noch eine Weile dort, obwohl es sehr anstrengend war mit meinem gebrochenen Bein. Aber meine Muskeln waren wie eingefroren. Meine Zunge lag nutzlos in meinem Mund. Nach einer Weile bewegten sich meine tauben Beine weiter. Langsam und vorsichtig schleppte ich mich die Treppen nach oben, um einen Sturz zu verhindern. Jetzt nochmal ins Krankenhaus zu müssen, hätte mir gerade noch gefehlt. Als ich alle Treppen geschafft hatte, stand ich atemlos da. Trotzdem zwang ich mich weiter zu laufen, bis ich die weiße Tür erreichte, auf die in schwarz der Name CAMI geschrieben war. Es kostete mich alles, die Tür zu öffnen und das Zimmer meiner Schwester zu betreten. Sobald die Tür offen stand, brach ich in lautem Schluchzen aus. Cami lag nicht in ihrem Bett. Sie war nirgendwo, aber trotzdem war sie hier. Ihr Duft war in ihrer weißen Lieblingsdecke gefangen, die auf ihrem Bett ruhte. An der Wand hingen Bilder von uns, von ihren Freunden. Ich lief etwas weiter. Ihre Klamotten lagen überall am Boden verteilt, sie war nie ordentlich gewesen. Aber was mir den Rest gab, waren ihre kleinen rosanen Ballettschuhe im Regal. Als ich sie erblickte, war es als hätte man mir einen Dolch in die Brust gestochen. Ich bekam kaum Luft und stolperte rückwärts.
Erschöpft ließ ich mich auf Camis Bett sinken, während ich irgendwie versuchte meine Atmung zu beruhigen. Meine Augen brannten und unzählige, warme Tränen liefen meine eiskalten Wangen hinunter. Meine Hände erfassten den weichen Stoff ihrer Lieblingsdecke, die ich an meine Brust zog. Ich vergrub mein Gesicht in der Decke und weinte. Ich wusste nicht, wie lange ich geweint hatte. Vielleicht Minuten, vielleicht Stunden. Wie lange es auch gewesen war, ich fühlte mich elend.
Ich legte die Decke in meinen Schoß und sah hoch. "Cami?"
Es kam nur als Flüstern heraus und ich wusste nichtmal, warum ich es tat, aber in einer solchen Situation hätte ich am liebsten mit Cami geredet. "Cami? Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber es tut mir sehr leid. Es tut mir leid, dass ich wütend auf dich war, du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Ich wünschte, ich hätte dich nochmal sehen können. Was soll ich denn jetzt machen, Cami? Ich bin allein. Ich habe niemanden. Ich habe alles verloren. Ich bin sogar so verzweifelt, dass ich mit der Decke rede und hoffe, du schickst mir irgendein Zeichen... Es tut mir so unendlich leid."
Als ich die Tür zu Camis Zimmer schloss, machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer, um meinen Mageninhalt in die Toilette zu entleeren. Camis Zimmer zu sehen, hatte mich fertiggemacht. Es war als hätte jemand mein Herz aus meiner Brust gerissen und es vor meinen Augen in seinen Händen zerdrückt. Noch nie hatte ich mich so gefühlt. So allein, so verloren.
Als ich vom Boden aufstand, spülte ich meinen Mund aus, um den widerlichen Geschmack in meinem Mund loszuwerden. Dann humpelte ich weiter zu meinem Zimmer. Hier war alles noch wie zuvor. Meine Ballettschuhe im Regal, daneben ein Pokal, den ich mal gewonnen hatte. Meine Bücher standen unberührt im Regal, mein Bett war gemacht, als hätte niemals jemand reingelegen. Ich würde meine Eltern und meine Schwester niemals wiedersehen. Sie waren tot. Einfach weg. Ich wusste nicht, wie ich überleben sollte. Würde der Schmerz irgendwann verschwinden? Ich trat vor meinen Spiegel an der Wand und blickte mich an. Und in diesem Moment war ich nicht mehr Lyra. Ich war jemand anders. Jemand, der alles verloren hatte. Meine Familie war weg. Ich konnte nicht mehr tanzen. Ich war nicht mehr Lyra. Ich war nicht mehr die alte. Und ich würde nie wieder die alte Lyra sein. 

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt