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Oben nochmal ein kleiner Teaser Trailer zu Deep Waters!

Die nächsten Tage verliefen nach einer Routine und langsamer als je zuvor. Jeden Morgen stellte meine Tante mir das Frühstück ans Bett. Sie meinte, ich müsste im Bett bleiben, um mich von meinen Verletzungen zu erholen, die inzwischen eher mental als körperlich waren. Meistens machte sie Pfannkuchen oder Speck mit Spiegelei und stellte den duftenden Teller neben mein Bett. Jeden Tag stellte ich mich schlafend, sie seufzte besorgt auf und rückte meine Decke wieder richtig hin, bevor sie wieder verschwand. Meistens ließ ich das Essen stehen, das sie mir drei Mal am Tag brachte. Ab und zu nahm ich einen Bissen, um sie nicht zu enttäuschen. Es war ja total nett, dass sie sich um mich kümmerte, aber momentan war mir der Hunger vergangen und ich wollte nur alleine sein. Aus dem Bett hatte ich es die Tage nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus auch nicht geschafft. Caroline war nochmals vorbeigekommen, hatte mir zum abertausendsten Mal gesagt, ich müsse endlich etwas essen. Und sie war mit mir im Bett gesessen und hatte mich mit ein paar meiner Lieblingsfilme abgelenkt. Ich tat so, als würde ich zusehen, aber die meiste Zeit dachte ich nach. Caroline erkundigte sich ständig nach mir, denn nach dem Tod ihrer Mutter ging es ihr miserabel und ich hatte nun meine gesamte Familie verloren. Sie wollte einfach nur für mich sorgen, wofür ich dankbar war, doch Alleinsein war das einzige, was sich richtig anfühlte.
Am Mittwochabend vor der Beerdigung saß ich nur steif an meinem Schreibtisch und versuchte Worte niederzuschreiben. Eine Grabrede. Meine Tante meinte, ich müsse das wirklich nicht tun, doch Caroline sagte, es wäre ein Weg, den Schmerz zu verarbeiten... und es schmerzte, also tat ich es einfach.
Wie sollte ich meine Familie in einer Rede beschreiben? Wie sollte ich vor allen reden, ohne dabei in Tränen auszubrechen? Ich tippte mit meiner Hand nervös auf dem leeren Blatt herum, bis ich neben mich sah. Dort standen Camis Ballettschuhe, die ich mir gestern aus ihrem Zimmer geholt hatte. Ich betrachtete die kleinen, rosanen Schühchen und setzte dann den Stift an.

Die Fahrt zum Friedhof war in Stille gehüllt. Ich trug ein Kleid, das genau so pechschwarz war wie mein Leben. In meiner Hand hatte ich das Papier, auf das meine Grabrede geschrieben war.
Als wir vor dem Friedhof hielten, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich war erst zwei Mal für eine Beerdigung dort gewesen. Die erste Beerdigung war die meiner Großmutter damals gewesen und die zweite, die von Carolines Mom. Und nun würde ich dort stehen, vor drei Särgen. Vor meiner toten Familie. Alle würden mich voller Mitleid ansehen und traurig den Kopf schütteln. Und ich war das Wrack, das in der Mitte stand. Das Wrack, das alle langsam beim Vorbeifahren beobachten, bevor sie mit ihrem Leben weitermachen. Aber mein Leben musste erst wieder zusammengesetzt werden. Ich war ein Wrack und musste mich irgendwann wieder reparieren, zumindest mit dem, was noch von mir übrig war.
Der Motor hörte auf zu summen und wir stiegen aus dem Auto aus. Meine Tante und mein Onkel liefen verunsichert hinter mir her. Wir hatten nicht viel geredet, da ich mich eher abgekapselt hatte. Es tat mir leid, sie so wegzustoßen, aber ich war ein Wrack, welches sicher keiner reparieren wollte.
Wir liefen über den Rasen zu den drei blumengeschmückten Särgen, die im Gras standen. Zwei große Särge, ein kleinerer. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich vor den schwarzen, glänzenden Särgen. Die meiner Eltern waren mit weißen Blumen geschmückt. Camis Sarg ebenfalls, doch auf ihrem waren auch ein paar rosane Rosen, ein Wunsch den ich geäußert hatte. Diese Rosen wuchsen in unserem Garten und die hatte sie schon immer geliebt. Eine Träne lief meine Wangen hinunter, als ich vor den Sarg meiner Mutter trat, in den golden Sloane O'Brien eingraviert war. Der Name meines Vaters war genauso in seinen Sarg eingraviert. Mark O'Brien.
"Lyra", hörte ich eine Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah Kaitlyn, Adam, Luke, Amandla und Caroline dastehen. Sofort lief ich auf Kaitlyn zu und fiel ihr um den Hals.
"Ist schon okay", sagte sie und drückte mich fest. "Du bist nicht allein."
Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Schulter um weitere Tränen zu unterdrücken. Ich wollte wirklich nicht weinen.
Als ich mich von Kaitlyn gelöst hatte, begrüßte ich die anderen.
"Danke, dass ihr da seid."
"Wir sind immer da, Lyra", sagte Amandla und lächelte mich schwach an, was ich erwiderte.
Nach und nach trafen immer mehr Leute ein. Einige davon machte ich als Bekannte meiner Eltern aus, andere waren mir vollkommen unbekannt. Camis Freundinnen standen mit ihren Eltern dort und legten ihnen je eine Hand auf die Schulter.
Als sich alle eingefunden hatte, begann der Priester ein paar Worte zu sagen. Inzwischen fielen dicke Regentropfen vom Himmel. Die meisten hatten Regenschirme aufgeschlagen. Ich stand neben meiner Tante und Caroline, die meine Hand hielt.
Ich blickte mich um und erblickte Karen und Manny, die hinter Aaliyah standen und traurig auf die Särge blickten. Rechts von ihnen stand Shawn. In einer Hand hatte er den schwarzen Regenschirm, die andere steckte in der Tasche seines Anzugs. Er hatte immernoch einige sichtbare Verletzungen im Gesicht und blickte traurig zum Priester, bis sich unsere Blicke trafen. Ich nickte ihm kaum merklich zu, um ihm zu danken, dass sie gekommen waren. Er erwiderte die Geste, bevor ich wieder zu den Särgen blickte.
"Mark und Sloane hatten noch eine Tochter, Lyra, die gerne ein paar Worte sagen würde", sagte er und richtete seinen Blick auf mich, was alle ihm nachtaten.
Caroline drückte meine Hand. "Du machst das schon."
Ich nickte und lief nach vorne, um mich mit dem Priester unter einen Schirm zu stellen.
"Ich möchte euch allen danken, dass ihr gekommen seid. Meinen Eltern und meiner Schwester hätte das bestimmt sehr viel bedeutet. In den letzten Tagen musste ich immer daran denken wie mein Vater mir das Fahrradfahren beigebracht hat. Es ist nur eine von vielen Erinnerungen, die ich mit ihm habe, aber in den letzten Tagen konnte ich einfach nur an diese denken. Ich war damals sehr ängstlich, weil ich nicht vom Fahrrad fallen wollte. Also hielt mein Vater das Fahrrad am Gepäckträger aufrecht und ich fuhr los. Mit seiner Hilfe bin ich gefahren und ich bat ihn darum, nicht loszulassen, weil ich es nicht alleine konnte. Doch er hat mich losgelassen und ich habe es geschafft, alleine. Natürlich habe ich damals erstmal nicht gemerkt, dass er mich losgelassen hatte. Er hat an mich geglaubt. Er wusste, dass ich es konnte. Und er hat mich unterstützt. Das hat er immer getan, bis zu seinem letzten Atemzug. Ich werde nie seinen stolzen Blick vergessen, als ich anhielt und mich zu ihm umdrehte. Er war immer da, auch wenn es mal schwierig wurde. Und wenn ich mal traurig war und an mir zweifelte, dann fand er immer die richtigen Worte, mich wieder aufzurichten. Er hat mir beigebracht immer an mich selbst zu glauben, egal was alle anderen sagen oder denken. Und meine Mom... Sie war immer da. Durch Liebeskummer, durch Verzweiflung, Enttäuschung. Sie wusste immer genau, was ich fühlte. Ich musste nichts sagen. Sie wusste es einfach, weil sie meine Mutter war. Sie wusste, wenn ich wütend, traurig, enttäuscht oder glücklich war. Sie wusste, wann ich reden wollte oder nicht. Sie konnte mich einfach immer aufmuntern, egal was in mir so vorging. Und auch wenn ich mal nicht reden wollte, setzte sie sich neben mich und nahm mich in den Arm, um mir nah zu sein und mir zu zeigen, dass ich nicht alleine war. Ich wünschte ich könnte den beiden nochmal sagen, wie dankbar ich ihnen für das bin. Ich bin so dankbar, dass sie mir beigebracht haben, was wirklich zählt, dass sie mich immer unterstützt haben, egal wie groß meine Träume waren. Das hätte ich ihnen gerne nochmal gesagt und wer weiß, vielleicht hören sie mich ja gerade. Ich könnte nicht dankbarer sein, dass sie mich zu der Frau gemacht haben, die ich jetzt bin und ich hoffe, ich habe sie stolz gemacht", sagte ich mich zittriger Stimme. Ich blickte in unzählige traurige Gesichter, manche weinten auch oder sahen bedrückt zu Boden. "Und meine Schwester... Cami. In meinem ganzen Leben hat mir noch nie ein Mensch so viel bedeutet wie sie. Seit sie weg ist, sehe ich sie überall. In ihrer weißen Lieblingsdecke, in den rosanen Rosen hinter unserem Haus und vorallem in ihren Ballettschuhen."
Ich hielt das Paar in die Höhe, das ich die ganze Zeit mit mir getragen hatte. "Das sind ihre Schuhe. Ich habe Cami ihre ersten Ballettschritte beigebracht und ich wünschte ich hätte ihr noch mehr beibringen können. Nicht nur Ballett, sondern wichtige Dinge, die sie in ihrem Leben gebraucht hätte. Wie man den ersten Liebeskummer überkommt und dass es nicht so schlimm ist, wenn man mal hinfällt, solange man wieder aufsteht. Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich und ich habe ihr so viel dafür gewünscht. Ich wollte, dass sie erfolgreich wird und eine gesunde und glückliche Familie gründet. Ich habe immer nur das beste für sie gewollt, aber das Schicksal hatte da wohl andere Pläne. Sie war so klug und sie war immer fröhlich. Sie war offen und hilfsbereit und ihre Lebensfreude war so ansteckend. Sie hätte mehr verdient, so viel mehr. Ein längeres, glückliches Leben. Ich hätte alles dafür gegeben, ihr das zu ermöglichen. Auch jetzt würde ich alles dafür geben. Manchmal wünschte ich, ich wäre an ihrer Stelle gewesen, denn dann würde sie jetzt trauern, aber sie hätte ein ganzes Leben vor sich. Ich wünschte, ich hätte ihr das geben können. Ich wünschte, sie wäre noch hier. Und ich weiß, wenn sie mich jetzt hier sehen würde, so voller Trauer, dann würde sie sich mit mir auf mein Bett setzen und mich trösten und mir sagen, dass alles wieder vorbeigeht. Sie würde mir sagen, dass es nur bergauf gehen kann und dass die Schmerzen vergehen werden. Und ich hoffe, sie behält damit recht. Es tut mir so leid, dass sie nicht mehr hier ist, denn sie war zu jung und zu sanft und ich wünschte, sie hätte nicht schon von uns gehen müssen. Ich liebe sie. Das werde ich immer tun. Und sie wird immer meine kleine Schwester bleiben. Immer."
Eine Träne kullerte mir die Wange hinunter und ich wischte sie schnell weg. "Und jetzt möchte ich mich an alle richten und euch etwas wichtiges mitgeben. Sagt den Menschen, die ihr liebt, dass ihr sie liebt. Am besten so oft es geht. Denn man denkt nie, dass es die letzte Gelegenheit sein könnte. Man weiß nie, ob das letzte Mal das letzte Mal sein wird. Man denkt immer, dass es weitergehen wird. Man denkt man hat noch ewig Zeit, aber das hat man nicht. Ich wünschte, ich hätte mich verabschieden können. Und ich wünschte, ich hätte mich bei ihnen bedankt und ihnen ein letztes Mal gesagt, dass ich sie liebe. Ich hatte nicht mehr die Möglichkeit dazu, aber ihr habt sie alle. Dafür sollte man dankbar sein", beendete ich meine Rede und drehte mich um, um zu Camis Sarg zu gehen. Ich stellte ihre Schuhe auf den Sarg, lächelte durch meine Tränen. Dann legte ich meinen Zeigefinger und meinen Mittelfinger zusammen, presste sie mir an die Lippen und legte sie dann auf die Gravur an der Außenseite des Sarges.
Camille O'Brien.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt