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Die Tasse, welche ich in meinen Händen hielt, wärmte meine Finger, doch am Rest meines Körpers hatte ich Gänsehaut. Das einzige Licht im ganzen Haus war die Lampe über unserem Küchentisch. Ich nahm immer wieder einen Schluck des wohltuenden Tees und starrte aus dem Fenster. Es war schon früh dunkel geworden und obwohl es bereits stockdunkel war, hatte ich das Gefühl es wurde mit jeder Minute noch schwärzer. Dicke, weiße Flocken wirbelten im Wind umher, ehe sie auf den Boden fielen und eine weiße Schicht bildeten. Normalerweise hätte ich mich jetzt mit meiner Mom unterhalten, die den Abwasch machte, während mein Dad im Wohnzimmer saß und wie wild auf die Tasten seines Laptops einhaute. Cami hätte oben Musik gehört und die verschiedenen Melodien wären leise zu uns heruntergedrungen. Aber es war nicht mehr normal und ich bemerkte die fehlenden Geräusche und das warme Licht, das unser Haus normalerweise durchflutete und es kuscheliger machte, mehr als sonst. Ich stand auf, stellte die leere Tasse neben das Spülbecken und löschte das Licht. Im Dunklen tappte ich zur Garderobe und schlüpfte in meinen Mantel und meine Schuhe. Ich griff nach dem Schlüssel und steckte ihn in meine Jackentasche. Bevor ich die Tür öffnete, zog ich mir noch eine Mütze und Handschuhe an, um wenigstens etwas besser vor der Kälte geschützt zu sein. Als ich die Tür aufmachte, kam mir ein eisiger Windstoß und einige Schneeflocken entgegen, die mich schaudern ließen, doch ich ignorierte die schneidende Kälte und lief los. In den meisten Häusern brannte noch Licht und manche hatten sogar schon ihre Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt, obwohl es gerade mal Mitte November war. Noch letztes Jahr hätte ich meinen Dad um diese Jahreszeit bereits angebettelt, unser Haus auch zu schmücken, doch dieses Jahr wünschte ich, es gäbe Weihnachten nicht mehr. Ich würde es zu Hause verbringen, alleine. Als ich den Friedhof erreichte, schmerzte meine Lunge von der eiskalten Luft. Es war ein unheimlicher Ort bei Nacht, doch der dichte Schnee verschluckte alle Geräusche und das fahle Licht der Laternen, welches den weißen Boden zum glitzern brachte, machten ihn irgendwie friedlich.

Die drei Gräber waren voll mit Blumen, manche waren bereits welk, andere noch frisch. Für mehrere Momente stand ich nur da und schaute auf die Gräber nieder. "Ich vermisse euch. Ich vermisse euch so sehr!", sagte ich leise und blinzelte, damit die Tränen in meinen Augen verschwanden. "Kommt zurück", flüsterte ich und eine heiße Träne lief meine Wange hinunter. Ich wusste nicht, was ich mir davon erhoffte. Ein Zeichen vielleicht, eine Sternschnuppe, das Flackern einer Laterne oder sonst irgendwas. Aber natürlich passierte nichts dergleichen und ich drehte mich um und verließ den Friedhof. Mein Kopf war leer, doch meine Beine trugen mich weiter in eine Richtung. Bis zur Brücke dauerte es fast eine Viertelstunde zu Fuß, doch ich lief zielsicher weiter, ohne langsamer zu werden. Erst als ich die Brücke sah, verlangsamte ich meinen Schritt. Ich atmete tief ein und aus. Einige vereinzelten Autos fuhren an mir vorbei während ich auf dem Fußgängerweg bis in die Mitte der Brücke lief. Das Wasser rauschte unter mir und ich fühlte mich, als müsste ich brechen. Seit dem Unfall war ich nicht mehr hier gewesen. Ich lehnte mich an das Geländer und sah in das dunkle Wasser hinunter. Vor meinem inneren Auge sah ich Cami, wie sie versuchte sich an die Oberfläche hochzukämpfen, doch einfach in die Tiefe gerissen wurde. Ich schüttelte meinen Kopf, um den Gedanken loszuwerden.

"Lyra?" Ich wirbelte herum. Shawn stand mir gegenüber, in einer dicken Jacke und einer Mütze, und sah mich ungläubig an. "Ich hatte nicht gedacht, dass ich dich hier treffe." Ich funkelte ihn wütend an. "Was tust du hier, Shawn?", fragte ich scharf. "Hör zu, ich bin hier nicht hergekommen, um dir auf die Nerven zu gehen oder so. Ich bin hier um Nachzudenken, genau wie du." Er trat neben mich und schaute in die Ferne. "Woher willst du wissen, dass ich zum Nachdenken hier bin?" Ich warf ihm einen bösen Blick zu. "Wieso solltest du sonst..." Auf einmal stieg Panik in seinen dunklen Augen auf. "Oh mein Gott! Wolltest du dir etwas antun? Bitte sag mir, dass du das nicht vorhattest!" Er griff nach meinem Handgelenk und zog mich an sichn um mich zu umarmen. Ich riss mich los. "Was? Nein! Ich weiß nicht wieso ich hierher gekommen bin. Ich habe es einfach getan." Erleichtert atmete er aus. "Gut! Ich dachte schon-" "Du dachtest, das psychisch labile Mädchen, dessen Familie ums Leben gekommen ist, will sich umbringen. Schon klar", schnitt ich ihm das Wort ab. "So meinte ich das nicht, Lyra." "Ach ja? Und wie dann?" Shawn seufzte und machte eine Pause bevor er erwiderte: "Hör mal, ja? Ich will mich nicht mit dir streiten. Ich wollte dich nicht verletzten, ich habe nicht nachgedacht." Ich lachte auf. "Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du meine Familie umgebracht hast." Meine Stimme war so kalt wie die Luft die uns umgab. Ich sah wie sich der Ausdruck in Shawns Gesicht änderte, es war wie ein Schlag ins Gesicht für ihn gewesen. Anstatt zu antworten, drehte er sich weg von mir und starrte das Wasser unter uns an. Ich blieb neben ihm stehen, für eine oder zwei Minuten, und ging dann langsam los.

"Warte!", sagte Shawn leise und sah mir in die Augen. Sie waren feucht und es liefen ihm Tränen über die Wangen. "Es tut mir Leid, Lyra! Es tut mir so unfassbar Leid!" Ich hätte nicht erwartet, dass es ihm tatsächlich so wichtig war, dass er weinen musste, doch ich blieb hart. "Das bringt mir auch nichts." "Lyra bitte! Gibt es irgendetwas, dass ich tun kann?" "Nein." "Rein gar nichts?" "Sie sind tot Shawn! Es gibt nichts, rein gar nichts, was du noch tun könntest, um es besser zu machen!", fauchte ich wütend. Ich lief erneut los, dieses Mal schneller.
"Ich wollte das nicht!",rief er verzweifelt.
"Glaub mir, ich auch nicht", murmelte ich leise. Als ich das Ende der Brücke erreicht hatte, drehte ich mich um. Er stand noch immer an derselben Stelle und sah mir hinterher. Ich lief so schnell weiter, dass ich einige Male fast im Schnee ausrutschte, doch ich wollte weg von hier. Weg von allem. Und besonders von Shawn.

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt