Noch mehr Probleme

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Die restliche Mittagspause konnte ich mich kaum noch auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Was war bloß los mit mir? Ich sollte nicht so viel in Ryans plötzliches Interesse für mich hinein interpretieren. Er war ein Player, wenn er etwas gut konnte, dann Mädchen umgarnen. Und ich war eindeutig kein Mädchen, das mit ihm schlafen würde, egal wie viel Interesse er an mir zeigte...

Auch der restliche Nachmittag verlief ohne große Vorkommnisse. Zwar hatte ich am Nachmittag zusammen mit Ryan Geschichte, jedoch vermied ich es tunlichst, ihn anzusehen und er ließ mich in Ruhe. Als ich um fünf Uhr endlich aus hatte, merkte ich den Schlafmangel und die letzten stressigen Tage. Ich war komplett fertig.

Tyler und Mary müssten schon zuhause sein und sich um David, Lily und Finn kümmern. Ich dagegen konnte noch nicht nach Hause gehen. Ich musste zum Supermarkt in der Nähe unserer Wohnung, wo ich einen Nebenjob hatte, damit wir über die Runden kamen. Völlig entnerft leistete ich meine drei Stunden ab und verließ den Supermarkt um kurz nach acht Uhr. Ich freute mich, endlich nach Hause zu kommen.

In unserer kleinen Wohnung erwartet mich jedoch eine böse Überraschung. Vater war nach Hause gekommen, während ich noch gearbeitet hatte. Und er hatte Tyler geschlagen.

Alles was ich wollte, war mich hinzusetzen und vielleicht etwas zu essen, doch ich musste mir von meinem Vater anhören, was für furchtbare Kinder wir wären und das wir alle ins Heim kommen würden, wenn er sich nicht so gut um uns kümmern würde. Er lallte und stank nach Alkohol, doch er konnte immer noch fest zuschlagen.

Als er am frühen Abend nach Hause gekommen war, waren Tyler und Mary schon da gewesen. Mary hatte sich um Mutter gekümmert und war gerade aus ihrem Zimmer gekommen, als Vater durch die Wohnungstür in die Wohnung getorkelt war. Er hatte zu unserer Mutter gewollt und Mary hatte sich ihm in den Weg gestellt. Mutter war gerade erst wieder eingeschlafen. Vater hatte nicht lang gezögert und Mary aus dem Weg geschubst. Tyler, der das Ganze gehört hatte und aus der Küche gekommen war, wo er zuvor David und Lily bei den Hausaufgaben geholfen hatte, war auf Vater losgegangen, doch Tyler war erst vierzehn und Vater war auch betrunken noch größer und stärker. Jetzt hatte Tyler ein blaues Auge und meiner laienhaften Diagnose nach eine geprellte Rippe. Mary hatte blaue Flecken an den Armen, wo unser Vater sie gepackt hatte. David saß mit Lily am Küchentisch. Er hatte Finn in den Armen und Lily hatte sich an ihn geschmiegt. Sie waren beide weiß im Gesicht.

Vater war bei Mutter im Zimmer. Mal hörten wir ihr heiseres Geschrei, dann wieder sein tiefes Brüllen. Sie stritten sich, heftig.

"Er bringt sie um!", flüsterte Tyler.

Wir standen vor der Tür zum Elternschlafzimmer, ich, Tyler und Mary, und wussten nicht, was wir tun sollten. Inzwischen war es halb neun. Laut Mary war Vater schon seit über zwei Stunden bei Mutter, abgesehen von der Zeit in der er kurz herausgekommen war, um sich bei mir zu beschweren.

Mir wurde kalt bei seinen Worten. Ich sollte etwas tun. Ich musste etwas tun! Verdammt, ich war die Älteste. Verzweifelt hob ich meine Hände und ließ sie wieder sinken. Ich wusste nicht, was wir tun konnten.

"Scheiße!", fluchte ich vor mich hin.

In diesem Moment wurde es totenstill hinter der Tür. Wir sahen uns erschrocken an. Mary wurde bleich. Ein paar Sekunden lang konnte man kein Geräusch hören. Dann drang das verzweifelte Schluchzen unseres Vaters durch die geschlossene Tür, gemischt mit dem höheren Weinen unserer Mutter.

Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Das Schlimmste war für heute überstanden.

"Kommt, machen wir Abendessen." Ich zog Tyler und Mary von der Tür weg und zusammen gingen wir in die Küche. David mischte eine Flasche für Finn an und ich gab sie ihm während Tyler und Mary eine große Portion Spaghetti machten. Als Soße schnitten wir eine Zwiebel klein, und schütteten sie mit zwei großen Packungen Pizzatomaten zusammen. Wenn man das noch ordentlich würzte, gab es eine passable Tomatensauce ab. Ich brachte Finn ins Bett, während die anderen anfingen zu essen.

Kurze Zeit später saß ich völlig entkräftet am Küchentisch und versuchte, noch etwas zu Essen aufzunehmen. David und Lily waren völlig übermüdet und alberten herum, Mary versuchte, während dem Essen noch die Mathehausaufgabe für den nächsten Tag fertig zu machen und ich versuchte, Tyler zu überreden, mir etwas von seinem Tag zu erzählen.

Plötzlich wurden David und Lily stumm. Mary blickte auf und ihr Gesicht wurde starr. Auch Tyler und ich blickten zu Küchentür. Dort stand unser Vater. Er sah furchtbar aus. Sein Gesicht war rot und fleckig, seine Augen aufgequollen. Er stützte sich am Türrahmen ab. Ich war instinktiv aufgestanden und hatte mich halb vor meine Geschwister geschoben.

"Vater", sagte ich und hörte, wie kalt meine Stimme klang, "wie geht es Mutter?" Er blickte mich an und ich sah den Schmerz in seinen Augen.

"Sie schläft", erwiederte er mit rauer Stimme, "bekomme ich auch etwas zu essen?"

Ich betrachtete kurz meine Geschwister. Tyler starrte verstockt vor sich hin, seinen Kiefer fest zusammengepresst. Mary betrachtete unseren Vater halb hoffnungsvoll, halb ängstlich. David und Lily hatten sich eng aneinander auf die Küchenbank gepresst.

"Geht ins Bett, in Ordnung?", wies ich sie sanft an. Sie nickten und huschten aus der Tür, als ich Vater durch ein Nicken hereinbat. Er ließ sich schwer auf die Küchenbank fallen und füllte sich Spaghetti und Soße auf den Teller, den ich ihm geholt hatte.

Nach einer Weile hielt ich die Anspannung am Tisch nicht mehr aus.

"Vater, du solltest dich entschuldigen!"

Er blickte von seinem Teller auf, sah mich kurz irritiert an, dann schlich sich die Erkenntnis in seinen Blick. Er legte sein Besteck hin und schaute erst Mary und dann Tyler an. Mary erwiederte seinen Blick, Tyler jedoch starrte nur verbissen auf seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte.

"Es tut mir leid, ich wollte euch nicht wehtun...", sagte Vater hilflos. Seine Hand zitterte als er nach seinem Glas griff und einen großen Schluck Wasser nahm.

"Ich war nur so... Wegen eurer Mutter... Wisst ihr..." Er setzte mehrmals an, doch er schaffte es nicht seinen Satz zu beenden.

Mary legte eine Hand auf seinen Arm.

"Ist schon in Ordnung", flüsterte sie und Vater sah sie dankbar an. Dann blickte sie kurz zu mir.

"Ich gehe schonmal ins Bett, ich muss morgen eine Prüfung schreiben." Ich nickte nur.

Ich wusste, dass Tylers Vergebung wichtiger war, Vater hatte ihn mehr verletzt als Mary, sowohl körperlich als auch psychisch. Doch Tyler machte keine Anstalten, Vater auch nur anzusehen.

"Tyler...", setzte Vater wieder an. Er wollte Tylers Hände in seine nehmen, aber Tyler sprang plötzlich auf und funkelte ihn voller Wut an.

"Nein, nenn mich nicht so! Ich will dich nie wieder sehen, Dad!" Mit diesen Worten verschwand er in dem Zimmer, das er sich mit David und Finn teilte und knallte die Tür hinter sich zu. Durch den Knall wachte Finn wieder auf und fing an zu schreien. Ich seufzte und holte ihn aus seinem Bettchen. Mit ihm auf dem Arm setzte ich mich wieder zu Vater in die Küche.

Vater starrte vor sich hin. Leise summend wiegte ich Finn hin und her, bis er aufhörte zu wimmern. Gerade als ich aufstehen wollte, um ihn wieder in sein Bett zu legen, sah Vater auf.

"Ich muss mit dir reden, Mädchen."


The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt