Family

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Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war ich wirklich ehrlich zu ihm. Ich beantwortete jede einzelne Frage von ihm, auch wenn das dazu führte, dass ich zweimal in Tränen ausbrach. Das erste Mal war, als ich erzählte, wie meine Mutter gestorben war, das zweite Mal, als ich ihm gestand, dass ich nicht in einem normalen Club arbeitete, sondern in einem Stripclub.

Irgendwann zwischendrin hatte Ryan seinen Arm um mich gelegte und als ich fertig war, lagen wir fest umschlungen quer auf seinem Bett. Ryan strich immer wieder über meinen linken Oberarm. Ich hatte den Kopf an seiner Schulter vergraben. Es fühlte sich so gut an, das alles irgendjemandem erzählt zu haben. Jetzt, wo ich es geschafft hatte, wurde ich auf einmal furchtbar müde.

„Du hast gewonnen...", flüsterte mir Ryan plötzlich zu. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er grinste schief, doch seine Augen blickten traurig.

„Dein Leben ist schlimmer als meines"

Ich gab ein Geräusch von mir, das teils ein Lachen, teils ein Schnauben und teils ein Schluchzen war. Dann legte ich meinen Kopf wieder an seine Schulter. Es war schon fast absurd, wie perfekt mein Kopf in die kleine Kuhle an seiner Schulter passte, als wären sie füreinander geschaffen.

Ohne, dass ich es selbst bemerkte, schlief ich ein. Als ich erwachte, ging draußen die Sonne unter. Es war ein klarer, kalter Tag gewesen und die Sonne schickte ihre letzten Strahlen in das Zimmer und malte die Wand orange. Ryan lag neben mir, auch er schlief. Er hatte sich gedreht, sodass er auf dem Bauch lag, sein linker Arm war jedoch immer noch fest um mich geschlungen.

Ich blickte zur Uhr. Es war schon vier Uhr und wir wollten noch das Wirtschaftsbuch besprechen. Vorsichtig, um Ryan nicht zu wecken, richtete ich mich auf. Ich musste furchtbar dringend mal für kleine Mädchen. Langsam nahm ich Ryans Arm und drehte mich darunter heraus. Dann stieg ich über ihn und ging ins Bad, das direkt an das Zimmer angrenzte.

Als ich mich erleichtert hatte, betrachtete ich mich abermals im Spiegel. Meine Haare waren zerzaust und meine Augen immer noch leicht gerötet, trotzdem fühlte ich mich so viel besser, dass ich mir einmal kurz zulächelte. Es war ein erleichtertes Lächeln.

Ryan war gerade am Aufwachen, als ich ins Zimmer zurück kam. Er gähnte einmal laut und streckte sich, dann fiel sein Blick auf mich.

„Ich hatte schon Angst, du wärst gegangen...", murmelte er noch halb schlaftrunken. Einem plötzlichen Impuls folgend, begann ich schneller zu werden und sprang schließlich auf sein Bett, nur ein paar Zentimeter neben ihm. Er zuckte hoch, streckte mir abwehrend die Arme entgegen und schrie halb auf. Als ich landete, krümmte ich mich vor Lachen.

„Bist du wahnsinnig?", fragte Ryan und fing gleichzeitig an, mich durchzukitzeln. Ich quietschte auf und versuchte, von ihm weg zu kommen, doch er war stärker als ich. Mit der einen Hand drückte er mich aufs Bett, mir der anderen kitzelte er mich.

Gerade als ich am lautesten lachte, ging die Tür mit einem Knall auf. Ein Junge stand in der Tür, vielleicht vierzehn Jahre alt. Seine Ähnlichkeit zu Ryan ließ keinen anderen Schluss zu, als das hier gerade sein kleiner Bruder reingeplatzt war.

„MAMA, Ryan hat ein Mädchen in seinem Bett!", krähte er, so laut er konnte und kam dann ins Zimmer rein. Sofort schubste ich Ryan von mir runter und kletterte aus dem Bett. Währenddessen versuchte ich, meine Haare wieder in Ordnung zu bringen. Ryan ließ sich mit einem Stöhnen zurück auf die Kissen fallen.

„Mickey, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht ohne zu Klopfen in mein Zimmer kommen?", schimpfte Ryan.

„Nenn mich nicht Mickey!", giftete der Junge zurück. Dann musterte er mich mit einem Blick, der mich wünschen ließ, ich könnte mich irgendwo verstecken. Nach ein paar Sekunden wurde sein Blick jedoch weicher.

„Hi, Mike Parker, freut mich, dich kennen zu lernen", er gab mir die Hand. Ich ergriff sie vorsichtig, irgendwie erwartete ich eine Falle.

„Ich bin Liz, freut mich auch", gab ich zurück.

„Hallo Liz" Eine Frau war ins Zimmer gekommen. Sie war vielleicht Ende Vierzig und sah furchtbar elegant aus. Allein ihre Körperhaltung hätte mich fast schon wieder flüchten lassen, doch Ryan war aufgestanden und hatte sich beschützend neben mich gestellt. Ich war dankbar für seine Nähe.

„Mama, das ist Liz, sie ist bei mir in der Stufe. Wir wollten heute zusammen Wirtschaft lernen", stellte er mich etwas steif vor. Die Dame verzog ihre kirschroten Lippen, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

„Nach Wirtschaft lernen, sah das aber nicht aus, was ihr da im Bett gemacht habt", grätschte Mike dazwischen und ich spürte, wie ich rot wurde.

„Wir haben nichts...", versuchte ich, zu erklären, doch Ryan war lauter als ich.

„Mike, verdammt, jetzt hau endlich ab, bevor ich dir alle Knochen breche!", drohte er und schlug gleichzeitig nach Mike. Der lachte nur, verzog sich aber trotzdem aus dem Zimmer. Mrs. Parker lächelte immer noch etwas gekünstelt.

„Wir essen um acht Uhr!", teilte sie Ryan mit und verließ ebenfalls das Zimmer. Ryan seufzte und ließ sich ganzer Länge zurück aufs Bett fallen.

„Herzlichen Glückwunsch, jetzt kennst du meine Familie...", meinte er und verdrehte die Augen, „und rate mal, was das Beste ist: das war immer noch der nettere Teil meiner Familie..."


Ich hoffe, es gefällt euch. Voten und kommentieren nicht vergessen ;)

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt