Alte Dämonen

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Ich zögerte kurz, ob ich Ryan die Geschichte wirklich in allen Einzelheiten erzählen sollte, doch wenn man eine komplizierte Geschichte erzählen wollte, fing man am besten am Anfang an.

„Das war vor zwei Jahren im April", begann ich und war mir Ryans interessiertem Blick durchaus bewusst. „Marc und ich, eigentlich müsstest du dich noch an ihn erinnern, wir waren alle in derselben Stufe, jedenfalls waren wir unzertrennlich. Echte Zwillinge halt, wir gingen überall zusammen hin, das hatten wir schon unser ganzes Leben so gemacht." Ich sah Ryan an und bemerkte das Blitzen in seinen Augen.

„Jetzt weiß ich es wieder", fiel ihm ein, „ihr wart wirklich immer zusammen, ihr hattet es sogar geschafft, fast alle Kurse zusammen zu haben..."

Kurz musste ich schmunzeln, das stimmte. „Aber eigentlich beginnt es noch viel früher. Als wir fast fünfzehn waren, hatte Marc sich in den Kopf gesetzt, er würde jetzt schießen lernen. Er war der Meinung, das müsse man in unserem Viertel können. Und weil ich nicht wollte, dass er etwas konnte, was ich nicht konnte, wollte ich natürlich auch schießen lernen." Ryan nickte lächelnd.

„Wir kannten Billy, er war im ganzen Viertel bekannt, und wir schafften es tatsächlich, ihn zu überreden, uns ein paar Waffen auszuleihen. Er kannte ja unseren Vater und wir wussten, dass wir Ärger kriegen würde, wenn wir die Waffen nicht zurückbrachten..." Kurz schwieg ich, beinahe überwältigt von der Erinnerung an diese Tage. Es war fast ein Wunder, dass wir uns nicht gegenseitig erschossen hatten, so ungeschickt hatten wir uns zuerst angestellt.

„Nach einigen Wochen und mit etwas Hilfe lernten wir tatsächlich ein bisschen was, zumindest wie man überhaupt eine Pistole laden und spannen musste", fuhr ich fort. Bombay, ein Kumpel von uns, der schon mit uns im vollgepissten Sandkasten gespielt hatte, hatte uns eines Tages dabei gesehen, wie Marc fluchend versucht hatte, den Schlitten zu entfernen, um die Waffe zu säubern, da sie Ladehemmung hatte. Er hatte uns zuerst eine halbe Stunde ausgelacht. Dann hatte er sich die Tränen aus den Augen gewischt und uns gezeigt, wie wir die Waffe auseinanderbauen und wieder zusammensetzen konnten, ohne uns selbst die Finger einzuklemmen. Schließlich hatte er sich öfter mit uns getroffen und uns jedes Mal etwas Neues beigebracht.

„Wir trafen uns oft in Hinterhöfen und ballerten auf alte Bierdosen, die wir überall fanden. Und irgendwann, vielleicht nach einem halben Jahr oder so, trafen wir die Scheißdinger endlich..." Ich lachte auf, als ich an den Moment dachte, in dem ich zum ersten Mal mit einem lauten Knallen eine Dose von der Bank schoss, auf die wir sie gestellt hatten. Lauter Jubel erklang und sofort war ich von den Jungs umringt, von Bombay und seinen Freunden. Nur Marc sagte nichts, aber an der Art, wie er mich ansah, nickte und lächelte, sah ich, dass es für ihn ok war, dass ich etwas schneller gelernt hatte, als er.

„Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir auch nur annähernd gut darin wurden..." Wie oft hatte ich Muskelkater gehabt, weil der Rückschlag zu groß gewesen war oder die Waffe so unfassbar schwer.

„Dann im April, als wir sechzehn waren, es war ein kalter Tag und der Himmel war bewölkt, hatten wir uns den falschen Hinterhof rausgesucht. Wir wussten es nicht, aber in einem der Häuser, die zu dem Hinterhof gehörten, wohnte Billy. Billy hatte einen Hund, falls man das Vieh überhaupt Hund nennen will, und dieser Hund sah den Hinterhof als sein Revier an. Er sah überhaupt nicht ein, wieso dort jetzt auf einmal Jugendliche stehen sollten und auf Blechbüchsen schießen wollten. Bombay und seinen Freunde waren an dem Tag nicht dabei gewesen, Marc und ich waren also nur zu zweit. Du kannst dir unseren Schreck gar nicht vorstellen, als plötzlich dieser wildgewordene halbe Wolf auf uns zugerast kam." Ich erschauerte beim Gedanken. Die Augen des Hundes waren vollkommen irre gewesen, sein Maul war halb offen gewesen und der Geifer war ihm rausgelaufen. Und er war so schnell gewesen.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt