Run and Hide

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Marc nickte. „Ich weiß, sie kann nicht hier bleiben", er fuhr sich über die militärisch kurz rasierten Haare. „Weißt du irgendetwas über das Messer? Können sie es hier her zurückverfolgen?" Ich wiegte bedächtig meinen Kopf hin und her.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich habe Mary mein altes Messer geschenkt, als sie mit Louis zusammen gekommen ist, weißt du, das mit meinen Initialen drauf, E.V.B. Falls sie es irgendwie erkennen, könnte sie das hierher führen." Ich überlegte ein paar Sekunden. „Aber eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass sie darauf kommen. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn Mary zumindest ein paar Tage untertauchen würde..." Marc sah nachdenklich aus dem Fenster. Ich wusste, es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, ihn das zu fragen, doch ich hatte das Gefühl es wäre wichtig.

„Marc, in was für Schwierigkeiten hat Jimmy gesteckt?" Ich hatte einen wunden Punkt getroffen, das sah ich sofort. Marc verzog gequält das Gesicht.

„Ich weiß es selber nicht genau, er hat mir nicht alles erzählt", er schien einen Moment nachzudenken. „Ich weiß, dass es um eine Sache zwischen den Hounds of Hell und einer konkurrierenden Gang ging. Ich glaube, es ging um Territoriumsstreitigkeiten." Ich runzelte die Stirn. War das wirklich alles, was er wusste?

„War Jimmy in einer der Gangs?", fragte ich nach. Marc seufzte, doch dann nickte er resigniert.

„Jimmy war ein Hound", seine Stimme erstarb. Ich hatte das Gefühl, da gäbe es noch mehr, was er erzählen wollte und so schwieg ich, bis er weiterredete. „Wir... Er und ich wurden gleichzeitig angeworben. Die Hounds of Hell hatten uns beide auf der Straße gefunden. Nach einem Jahr habe ich es gerade rechtzeitig noch geschafft, auszusteigen und mir einen anderen Job zu suchen. Jimmy wurde aufgenommen..." Er sah auf den Boden und ließ seine Hände knacken. Ich strich mit meiner Hand beruhigend über seinen Arm. Er schien nicht besonders gute Erinnerungen an die Zeit zu haben.

Nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf, als wolle er die Gedanken loswerden und sah mich mit wieder klarem Blick an. „Was machen wir mit Mary?", fragte er. Ich zog kritisch die Augenbrauen zusammen, gute Frage.

„Könntest du dich eine Weile mit ihr verstecken? Ich habe das Gefühl, ihr solltet beide die nächsten Tage nicht allzu präsent in Philly sein..."

„Ich denke auch", stimmte Marc mit zu.

„An wie viel Geld kommst du auf die Schnelle?", wollte ich wissen. Geld konnte ein wichtiger limitierender Faktor sein.

„Ein Kumpel schuldet mir noch etwa zweihundert Dollar. Allerdings weiß ich nicht, ob es nicht zu riskant ist, ihn zu kontaktieren...", meinte er. Ich stimmte ihm zu. Gespart hatte ich in den letzten Monaten nicht viel. Die Miete für die Wohnung schluckte schon so viel von meinem Lohn, dass schon für Essen und Kleidung meistens zu wenig übrig blieb. Trotzdem konnte ich ihnen vielleicht hundert Dollar geben, wenn wir den Rest des Monats nur noch Kartoffeln und Nudeln aßen.

Ich beredete mit Marc die Feinheiten. Ihm fiel ein Ort ein, an den er mit Mary gehen könnte, doch bevor er ihn mir sagen konnte, unterbrach ich ihn. Es war vielleicht besser, wenn ich nicht genau wusste, wo sie waren, nur zu Sicherheit.

Da ich Mary noch nicht damit belasten wollte, ging ich selbst in unser Zimmer und packte ihr eine kleine Tasche mit Klamotten zusammen. Als ich ein T-Shirt in die kleine, geblümte Reisetasche stopfte, merkte ich, dass meine Hände zitterten. Ich ballte sie kurz zu Fäusten und entspannte sie dann wieder, doch sie zitterten weiterhin. Ich atmete tief ein und aus um mich zu beruhigen, doch ich hatte nicht das Gefühl, das würde helfen.

Meine Beine fühlten sich plötzlich wie Wackelpudding an und ich ließ mich auf Marys Bett fallen. Ich musste mir eingestehen, dass ich furchtbare Angst um sie hatte. Sie hatte gesehen, wie zwei Menschen erschossen worden waren und als sei das nicht genug Belastung für einen Menschen, musste sie nun auch noch mit der Angst vor den Hounds of Hell klar kommen.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich konnte, ich durfte sie nicht verlieren! Sie war meine kleine Schwester, ich musste sie doch beschützen. Ich würde sie nicht einfach kampflos ihrem Schicksal überlassen. Aber dafür, wies ich mich zurecht, musste ich jetzt aufstehen und ihre Tasche fertig packen. Mary und Marc sollten die Wohnung noch an diesem Abend verlassen, je schneller desto besser.

Als ich mit der fertig gepackten Tasche ins Wohnzimmer kam, saß Marc neben Mary auf dem Sofa. Er hatte einen Arm um sie gelegt und sie lehnte sich an ihn. In ihren Augen standen schon wieder Tränen, doch sie bemühte sich fleißig, sie runter zu schlucken. David und Lily saßen mal wieder vor dem Fernseher. Marc sah mich und richtete sich auf, wodurch auch Mary auf mich aufmerksam wurde. Ich kniete mich vor das Sofa und griff nach ihren Händen. Sie drückte sie sanft.

„Marc hat mir schon erzählt, das wir für ein paar Tage wegfahren", meinte sie mit dünner Stimme. Ich sah sie mit schwerem Herzen an.

„Ist das in Ordnung für dich?", fragte ich. Sie nickte schnell.

„Wir schaffen das schon", sagte sie und versuchte sich an einem zugegeben etwas misslungenen Lächeln.

Plötzlich drängelte sich Lily von rechts an mich. „Warum müssen Mary und Marc wegfahren?", fragte sie mit ihrer hellen Stimme und sah mich aus großen Augen an. Ich strich ihr über den Kopf und versuchte, Zuversicht und Ruhe auszustrahlen.

„Sie fahren für ein paar Tage in Urlaub", sagte ich, um Lily nicht zu beruhigen.

„Oh", sagte sie und sah Mary mit einem neuen Selbstverständnis an. „Darf ich mitkommen?"

„Nein", musste ich sagten. „Ich bleibe auch hier. Nur Mary und Marc fahren." Ich stand auf und wuchtete sie hoch, damit sie nicht mehr weiterfragte. Eigentlich war sie schon zu groß und zu schwer dafür, doch ich setzte sie auf meiner Hüfte ab und gab ihr ein Küsschen auf die Wange.

„Kommt, es ist Zeit fürs Abendessen", sagte ich zu ihr und hielt David meine Hand hin, damit er mit in die Küche kam. David schnappte sich meine Hand und leicht schwankend ging ich mit ihnen in die kleine Küche. Ich wies sie an, schonmal den Tisch zu decken, dann kehrte ich nochmal ins Wohnzimmer zurück.

Marc und Mary waren bereits dabei, sich Schuhe anzuziehen. Mary sah einigermaßen gefasst aus und Marc schien so gelassen, als würde er nur zum Einkaufen gehen.

Zum Abschied umarmte Mary mich heftig. „Pass auf dich auf", flüsterte ich in ihre großen schwarzen Locken, die bezaubernd nach Orangenblüten rochen. Sie nickte und drückte mich noch fester an mich. Marc umarmte mich kurz danach genauso fest.

„Nicht den Kopf verlieren, wir schaffen das schon", murmelte er und ich musste mir Mühe geben, nicht aufzuschluchzen. Ich hatte so große Angst um sie. Solche Angst, dass dieser Abschied ein Abschied für immer sein würde.

„Lasst euch nicht schnappen", gab ich nur halb im Spaß zurück. Marc drückte mich noch ein letztes Mal, dann nahm er seinen Rucksack und Marys Tasche und die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss. Ich ballte die Fäuste, als ich das unlackierte Holz der Tür anstarrte. Wie sollte ich nur ohne sie klar kommen?


The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt