Die Beerdigung

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Langsam, wenn auch nicht mit der Vorsicht, die ich mir gewünscht hätte, ließen die Angestellten der Firma Silent Grave den Sarg in das kalte, dunkle Loch. Es war ein einfacher Holzsarg, ohne jegliche Verziehrungen, kaum mehr als eine Holzkiste. Zu mehr hatte unser Geld nicht gereicht. Immerhin konnten wir ihr ein einzelnes Grab bezahlen, darauf hatte ich bestanden.

Ich hätte es nicht ertragen können, wenn sie mit lauter anderen, fremden Menschen in eine Grube gepackt worden wäre. Es war so schon schwer genug, vor ihrem offenen Grab zu stehen, David und Lily fest an der Hand. Auf den anderen Seiten wurden sie von Mary und Tyler festgehalten. So stand ich eingerahmt von meinen Geschwistern am Grab meiner Mutter.

Wir gaben ein jämmerliches Bild ab. Ich hatte für keinen von uns eine vollständige schwarze, einigermaßen schicke Garderobe auftreiben können. Tyler trug eine graue, abgewetzte Hose mit Löchern an den Knien, Marys Rock war eher dunkelblau, als schwarz und passte nicht so ganz zu dem ausgebleichten schwarzen Pulli, der unserer Mutte gehört hatte, als sie noch jünger gewesen war. David und Lilys Kleidung war komplett zusammengestückelt und man sah, dass einige Stücke ihnen noch deutlich zu groß waren.

Finn hatten wir bei unserer Nachbarin Miss Mueller gelassen, die so freundlich gewesen war, auf ihn aufzupassen. Eine Beerdigung wäre wirklich nicht der richtige Ort für ihn gewesen.

Auch das Wetter schien uns nicht wohlgesonnen. Den ganzen Tag über war es bewölkt gewesen und gegen zehn Uhr morgens hatte es begonnen, leise zu nieseln. Ein leichte Nieselregen, der die ganze Welt in grau versinken ließ und uns abstumpfte.

Es waren sogar mehr Leute gekommen, als ich erwartet hätte. Clara, die alte Chefin meiner Mutter war gekommen und hatte zwei weitere von den Kolleginnen meiner Mutter mitgebracht. Eine alte Freundin, an die ich mich noch dunkel erinnern konnte, war ebenfalls gekommen. Ihr Name war mir entfallen, doch ich glaubte noch zu wissen, dass sie Bibliothekarin oder so etwas in der Art war.

Ein älterer Mann, der sich früher immer als Onkel Josef vorgestellt hatte, war ebenfalls gekommen. Ich wusste nicht mehr, woher er unsere Mutter gekannt hatte, doch ich hatte ihn als freundlich in Erinnerung. Ein kleiner Junge stand an seiner Seite, vielleicht etwa so alt wie David, und schaute verdrießlich vor sich hin. Ich wusste nicht, wer er war, und da er die Beerdigung anscheinend so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, war es mir auch egal.

Marc war nicht aufgetaucht. Ich hatte ihm eine SMS geschrieben, auf die er jedoch nicht geantwortet hatte und ich konnte unmöglich sagen, ob er sie überhaupt gelesen hatte. In seinem jetzigen Leben schien es Wichtigeres zu geben, als seine Familie und die Beerdigung seiner Mutter.

Mit einem leisen Rumms kam der Sarg unten auf der Erde auf. Mit geübten Griffen, lösten die Männer vom Bestattungsunternehmen die Seile und zogen sie aus dem Erdloch. Der Priester, welcher eine Fahne hatte, begann ein Gebet zu sprechen und ich forderte meine Geschwister auf, es ihm nachzumachen. Unsere Mutter war zum Teil irischer Abstammung und sehr gläubig gewesen und ich fand, wir sollten ihr diesen letzten Wunsch erfüllen und für sie beten.

Während ich in die Worte des Priesters einfiel, senkte ich meinen Kopf und schloss meine Augen. In meinem Kopf sagte ich meiner Mutter auf meine Art Lebewohl.

Auf Wiedersehen, Mama, ruh dich aus, jetzt kümmere ich mich um sie, versprach ich ihr und strich dabei Lily liebevoll über den Kopf.

Ich werde dafür sorgen, dass sie alle die Schule abschließen und mein Bestes geben, damit sie einen ordentlichen Beruf lernen, schwor ich ihr und gab David einen kurzen Kuss auf den Scheitel.

Ich werde ihnen immer von dir erzählen, damit sie dich nie vergessen, flüsterte ich ihr im Stillen zu und legte Tyler kurz meine Hand auf die Schulter.

Ich werde jeden Tag an dich denken. Ich habe dich lieb, schloss ich und drückte Marys Hand. Sie erwiederte meinen Druck und ließ dann meine Hand wieder los.

Der Priester beendete das Gebet und rief zu einer Schweigeminute auf. Während der Stille, die sich ausbreitete und sich über uns legte, wie Schnee im Winter die Landschaft zudeckte, dachte ich an meine Mutter, wie sie früher gewesen war. Ich hatte sie so unfassbar geliebt und jetzt war sie einfach fort. Mein ganzes Leben lang war sie da gewesen und jetzt war sie weg.

Ich spürte, wie langsam eine Träne über meine Wange rollte. Ich hatte sie den ganzen Tag zurückgehalten, doch jetzt brachen sie sich ungehindert Bahn. Unter meinen geschlossenen Augenliedern zwängten sie sich hervor und meine Wangen wurden heiß und salzig. Langsam und gleichmäßig versuchte ich, den Schmerz wegzuatmen, doch er kam immer wieder, stark und brennend. Ich hatte meine Mutter verloren und der Verlust hatte ein riesiges, schwarzes Loch gerissen.

Mitten hinein in das Schweigen hörte ich von hinten Geräusche, die langsam lauter wurden. Als es näher kam, erkannte ich das jemand fluchte und stöhnte und als es noch näher kam, erkannte ich die Stimme meines Vaters. Er war offensichtlich wieder betrunken und er lallte.

Ich öffnete die Augen und sah, wie er sich den Weg zu uns bahnte. Bei jedem Schritt schwankte er bedrohlich und es schien, als würde sich der Boden unter ihm bewegen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, in einem fort vor sich hin zu fluchen. Seine Schimpftirade wurde nur immer wieder unterbrochen von komischen Geräuschen, die er von sich gab.

Erst als er direkt vor mir stand und ich sein tränenüberströmtes Gesicht sah, wurde mir klar, dass die Geräusche Schluchtzer waren. Mein Vater heulte wie ein kleines Kind. Nun, wo er direkt vor dem Grab seiner Frau stand, schien die Last seines Körpers für seine Beine zu schwer geworden zu sein. Jegliche Körperspannung verließ ihr und er sackte nach vorn und fiel auf seine Knie.

"Oh Ann!", schluchzte er, aus seiner Nase lief Rotz, "Warum hast du mich verlassen? Wie konntest du nur?", er wurde langsam immer lauter, "Ann!" Sein letztes Wort war ein lauter Schrei, ein verzweifelter Ruf nach seiner einstigen großen Liebe, die er nun nie wieder sehen würde.

Mitleid und Abscheu mischten sich in mir und vergrößerten ein weiteres Mal den Pool an Gefühlen, die ich für meinen Vater empfand. Von all den Gefühlen überwog das Pflichtgefühl, als mein Vater ohne ein weiteres Wort vor dem offenen Grab zusammenklappte.


Habe ich gesagt, das ist eine Liebesgeschichte? So ein Blödsinn, es ist eine Tragödie! Tut mir leid wegen dem traurigen Kapitel. Das nächste wird fröhlicher, versprochen ;)

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt