Lauf!

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Es war nach ein Uhr nachts, als wir aus der U-Bahnstation traten. Es war inzwischen bitterkalt und die Straßen wurden eher schlecht als recht von den flackernden Straßenlaternen erleuchtet. Der Smog machte sich als schwarzer Nebel bemerkbar und verlieh unserem Viertel einen unheimlichen Anstrich.

Vor einer dreiviertel Stunde hatte ich Ryan im Garten stehen lassen und war ins Haus zurück gegangen, um meine Schwester zu suchen und mich von Devil zu verabschieden. Ich hatte Devil zuerst gefunden. Sie schien traurig, als ich ihr sagte, dass ich gehen müsse. Aber sie lächelte wieder, als ich vorschlug, dass wir ja unsere Nummern austauschen könnten. Ich verabschiedete mich von mir und suchte Mary. Ich fand sie in der Küche, wo sie sich mit Louis den Letzten der pinken Cupcakes teilte. Ich brauchte etwas, um sie von ihm loszubekommen und willigte schließlich ein, vor dem Haus zu warten. Etwa fünf Minuten später kam sie mit geschwollenen Lippen und einem glücklichen Glänzen in den Augen auch heraus. Ich freute mich für sie und machte mir gleichzeitig einen geistigen Vermerk. Würde dieser Louis ihr wehtun, müsste er sich auf einiges gefasst machen.

Nun waren wir back home in unserem schmuddeligen Viertel und der gefährlichste Teil unseres Weges lag vor uns. Unsere Anspannung war beinahe körperlich fühlbar und ich hatte die ganze Zeit meine Hände in den Hosentaschen, die rechte stets um das Klappmesser geschlossen. Wir kamen an den meisten Kneipen, Puffs und Stripschuppen vorbei und ich wollte schon aufatmen, als es passierte.

Uns kamen zwei Männer entgegen. Groß, breit und offensichtlich angetrunken. Ich packte Mary am Arm und wir wollten gerade umkehren und einen anderen Weg nehmen, als sie uns entdeckten.

"Hey Zuckerpüppchen! Bleibt doch mal stehen", rief uns der eine hinterher. Ich wusste, dass sie schneller sein würden als wir, egal wie viel sie getrunken hatte, also blieb ich stehen und drehte mich langsam um. In mir tobte die Angst, mein Herz schlug hart und mein Hals schnürte sich zu. Genau deswegen sollte man in meinem Viertel nicht mehr auf den Straßen unterwegs sein, wenn es nach zehn Uhr abends war.

Die Männer waren bis auf einige Schritte herangekommen und musterten uns nun aus unterlaufenen, gierigen Augen. Mir stockte der Atem, als ich das aufgenähte Logo, auf ihren Lederjacken entdeckte. Der dreiköpfige Hund Zerberos, Wächter zum Eingang der Hölle in der griechischen Mythologie, der Höllenhund. Die beiden Männer vor uns mussten Mitglieder der Hounds of Hell sein. Mitglieder bei der Gang, der mein Vater so verdammt viel Geld schuldete. Das war gar nicht gut... Aber ich musste Mary beschützen, wenigstens Mary retten.

"Mary, lauf so schnell du kannst, ich halte sie auf.", flüsterte ich ihr zu und ließ sie los. Gleichzeitig zog ich meine rechte Hand aus meiner Hosentasche, in der Faust fest das Klappmesser umklammert. Mary hatte sich nicht von der Stellte bewegt. Nun rückte sie noch etwas näher an mich heran.

"Ich lass dich nicht im Stich", flüsterte sie mir zurück, ihre Stimme bebte. Meine Angst verwandelte sich in Panik. Was auch immer gleich passieren würde, ich wollte auf keinen Fall, dass Mary hier war. Ohne die Männer aus den Augen zu lassen, klappte ich hinter meinem Rücken das Messer auf.

"Mary! Lauf! Sofort!" Meine Stimme war ein dunkles Grollen, fast schon ein Knurren. Sie schluchzte einmal kurz auf, dann drehte sie sich endlich um und ich konnte ihre rennenden Schritte auf dem Asphalt hören. Die Männer reagierten sofort.

"Hey, die Kleine will abhauen! Die schnapp ich mir", rief der eine. Der rechte, von mir aus gesehen. Er lief los, doch schnell trat ich ihm in den Weg, in meiner Hand eine tödlich blitzende Klinge. Er bremste sich ab, starrte böse auf mein Messer, das ich wie einen Schutzschild vor mich hielt. Der zweite Mann fing an zu lachen.

"Die Kleine hat ein Messer, wie niedlich!" Langsam und selbstsicher kam er auf mich zu. Er machte mir mehr Angst. Schritt für Schritt näherte er sich mir und Schritt für Schritt wich ich zurück. Unvermittelt machte er einen Satz nach vorn, packte mich am Handgelenk und drückte so fest zu, dass sich meine Hand reflexartig öffnete und das Messer klappernd auf den Boden fiel.

Der eine Mann, der Mary hatte verfolgen wollen, trat heran und hob das Messer vom Boden auf. Er betrachtete es eingehend, dann klappte er es zusammen und steckte es in seine Hosentasche.

"Gutes Messer, das behalte ich. Wenn ich schon das andere Mädchen nicht haben kann..." Er zeigte mir ein gruseliges Grinsen. Der zweite Mann packte mit seiner freien Hand mein Kinn und drehte es hin und her. Dabei betrachtete er mich wie ein Stück Fleisch im Supermarkt.

"Beruhig dich, die hier ist auch ganz hübsch. Jetzt muss sie eben für uns beide reichen...", meinte er und grinste den Ersten dreckig an.

Mir wurde schlecht. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was sie mir antun wollten, aber instinktiv wusste ich genau, was sie wollten. Zum Glück hatte ich Mary dazu bringen können, wegzulaufen. Wenigstens sie konnte sich in Sicherheit bringen.

Der eine Mann mit meinem Messer trat hinter mich und befühlte beinahe prüfend meinen Hintern. Ich blickte in das übelkeitserregende Gesicht des zweiten Mannes direkt vor mir und plötzlich schlug die lähmende Angst in heiße, flammende Wut um. Ich würde nicht kampflos aufgeben!

Blitzschnell zog ich meinen Arm zu mir, riss mein Knie hoch und rammte es dem Mann vor mir in seine Weichteile. Mit demselben Schwung riss ich mein Bein wieder zurück und trat dem Mann hinter mir fest auf den Fuß und ließ gleichzeitig meinen linken Ellbogen voller Wucht in seinen Bauch sausen.

Der Mann vor mir ächzte und ging auf die Knie, doch der Mann hinter mir schnaubte nur wütend. Er packte mich an der Schulter und wirbelte mich herum. Er sah ausgesprochen wütend aus. Ich sah seine Hand nicht kommen, und wenn, hätte ich auch nicht mehr ausweichen können. Seine Faust traf meinen linken Wangenknochen und der Schmerz explodierte in meinem Gesicht. Der Schlag war so wuchtig gewesen, dass ich mich auf dem Boden wiederfand, als ich wieder denken konnte. Grobe Hände rissen mich nach oben und bogen meine Arme auf den Rücken.

"Na los, jetzt kannst du dich an dieser Bitch rächen", hörte ich noch den einen Mann sagen, dann kam schon der Schlag in meinen Bauch. Ich schrie auf. Hätte der eine Mann mich nicht festgehalten, wäre ich wieder auf dem Boden zusammengesackt.

Der Schlag blieb nicht der einzige. Es folgte noch einer und noch einer und noch einer. Ich glaube, es war nach dem vierten oder fünften, als ich Blut spuckte und die Männer anflehte, sie mögen aufhören. Daraufhin packte der erste Mann, der mich die ganze Zeit geschlagen hatte, meine Haare und zog daran meinen Kopf in den Nacken. Sein widerwärtiges Gesicht war kaum zehn Zentimeter von meinem entfernt.

"Sag, dass es dir leid tut", zischte er mich an. Sein Atem stank nach Alkohol. Ich wiederholte seine Worte zitternd. Mir tat alles weh, auf meinem Gesicht mischten sich Blut und Tränen. Der Mann lachte laut auf und ließ meine Haare wieder los. Dann schlug er mir wieder in den Bauch. Ich war kaum mehr fähig, aufzuschreien.

Plötzlich hörte ich eine Stimme vom Ende der Straße.

"Mitch, Cassel, seid ihr das? Um Gottes Willen, lasst doch das arme Mädchen los. Kommt, ich spendiere euch eine Runde." Ich wandte meinen Kopf und blickte durch die Strähnen hindurch. Am Ende der Straße stand ein Mann, schlank, normal groß, mehr konnte ich nicht erkennen, dafür war es zu dunkel.

Die Männer, Mitch und Cassel, brummten kurz, als würden sie überlegen, dann ließ mich der eine, der mich festgehalten hatte, Mitch oder Cassel, ich wusste es nicht, los und ich fiel ungebremst auf den Boden. Schwer atmend richtete ich mich langsam in eine sitzende Position auf und blickte den Männern hinterher. Der Unbekannte begrüßte die Männer und ließ sie dann in eine Bar vorgehen. Er blieb noch kurz stehen und blickte in meine Richtung. In dem Moment wurde mir bewusst, dass wenige Meter von mir eine Straßenlaterne stand, er mich also einigermaßen gut sehen musste. Langsam stand ich auf. Doch als ich einen Schritt auf ihn zu machte, schüttelte er den Kopf und ging Mitch und Cassel hinterher.

Ich atmete tief durch. Dann drehte ich mich um und wankte nach Hause.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt