Nächtliche Überraschung

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Weihnachten kam und ging. Wir hatten nicht besonders viel Geld, um uns großartige Geschenke zu machen, deswegen schenkten wir uns Selbstgemachtes. Von David und Lily bekam ich eine Kette geschenkt, die sie wohl zusammen gemacht hatten. Sie war aus einem geflochtenen Band, mit einer Perle als Anhänger, ich legte sie mir sofort um den Hals. Von Tyler und Mary bekam ich etwas Teures. Sie hatten irgendwie Geld aufgetrieben und mir ein neues Klappmesser gekauft. Es war nicht ganz so hochwertig wie mein altes, doch es ließ sich leicht auf und zuklappen und die Klinge war scharf.

Auch ich war Einkaufen gewesen, allerdings war ich etwas praktischer veranlagt. David und Lily bekamen beide neue warme Pullover, Tyler eine neue, warme Jacke, über die er sich tatsächlich freute, weil sie in Lederoptik war und er sich darin wie ein Rockstar fühlte. Für Mary war ich lange unterwegs gewesen, bis ich etwas Passendes gesehen hatte. Ich wollte ihr nicht einfach etwas zum Anziehen schenken, da wir fast alle Klamotten teilten und es sich dann so angefühlt hätte, als würde ich es nicht nur ihr sondern auch mir schenken.

Dann hatte ich allerdings ein Kleid in einem Second Hand Landen gesehen und sofort an sie denken müssen. Es hatte lange Ärmel, war schwarz mit Blumen darauf und fiel ab der Taille leicht herab. Ich hasste Kleider wie die Pest, aber Mary liebte sie und beschwerte sich immer wieder, dass ich nie ein Kleid zum Anziehen kaufen würde. Pragmatisch gesehen war das Kleid auch warm genug, um es im Winter mit Strumpfhose und Jacke zu tragen, aber wenn man das wegließ, konnte man es auch gut an wärmeren Tagen anziehen. Mary freute sich wahnsinnig und warf mich fast vom Sofa, als sie mich umarmte.

Vater war auch da, was uns allen leicht die Stimmung verdarb. Beim Abendessen war er noch einigermaßen nüchtern gewesen, doch er hatte sich einen Schnaps gekauft und leerte nach dem Abendessen ein Glas nach dem anderen.

Irgendwann war er so betrunken, dass er im Fernsehsessel einschlief. Es war schon relativ spät und ich beschloss, dass meine Geschwister auch langsam mal ins Bett konnten. Tyler und Mary erlaubte ich, länger aufzubleiben, aber sie mussten sich in die Küche setzten und leise genug sein, dass Vater nicht aufwachte.

Ich selbst musste noch arbeiten. Noah hatte beschlossen, das Dirty Love an Heiligabend zwei Stunden später zu öffnen, weswegen ich erst um zehn dort sein musste. Marion hatte rote, sehr knappe Kostüme mit weißem, plüschigen Saum herbeigeschafft, in denen ich mich fühlte wie der feuchte Traum jedes perversen Weihnachtsliebhabers.

Entgegen meiner Erwartung war der Club sehr voll. Marion meinte, das läge an den ganzen enttäuschten Ehemännern, die von der Frau mit Kopfschmerzen als Ausrede abgefertigt wurden und dann hier landeten.

Als ich um sechs Uhr morgens nach Hause kam, hatte ich einen unglücklichen Zusammenstoß mit meinem Vater. Er wachte auf, als ich die Wohnungstür öffnete. Er wollte aufstehen, fiel jedoch mich einem Ächzen wieder zurück in den Sessel.

„Die kleine Schlampe kommt wieder nach Hause...", begrüßte er mich lallend. Ich blieb unschlüssig stehen. Am liebsten wäre ich einfach ins Bett gegangen, doch ich hatte Angst, dass er meine Geschwister wecken würde, wenn ich ihn jetzt allein ließ. Also ging ich vorsichtig auf ihn zu.

„Vater, wie geht es dir?", ich hatte keine Ahnung, was ich sonst sagen sollte. Er brummte unwirsch und winkte mich näher heran. Ich kam noch ein paar Schritte näher. Plötzlich schnellte er aus dem Sessel hoch und griff gleichzeitig nach mir. Er erwischte meinen Nacken und als die Schwerkraft ihn wieder zurück in den Sessel zog, riss er mich zu Boden. Ich fand mich halb knieend, halb sitzend vor seinen Beinen wieder. Er packte mit seiner rechten Hand meine langen Haare und zog daran. Ich keuchte auf vor Schmerz und beeilte mich, der Bewegung zu folgen. Er zog mich hoch, bis meine Gesicht knapp unter seinem war.

„Mädchen, gib mir dein Geld, dass du diese Nacht verdient hast!", lallte er mir ins Gesicht und seine Fahne erwischte mich mit voller Wucht. Mir wurde schlecht von seinem Alkoholgestank. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich wollte ihm mein hart verdientes Geld nicht geben, aber andererseits was hatte ich für eine Wahl? Würde ich es ihm verweigern, würde er mich grün und blau prügeln. Ich hatte vor ein paar Wochen erst die Erfahrung gemacht, dass er dazu auch in betrunkenen Zustand ohne weiteres fähig war.

Mit zitternden Fingern griff ich nach meiner Handtasche und holte meinen Geldbeutel heraus. Wie er wollte, gab ich ihm alles, was ich vor einigen Minuten erst noch selbst von Panther in die Hand gedrückt bekommen hatte. Es war nicht viel, lediglich 40 Dollar, die Hälfte behielt Panther stets ein zur Begleichung der Schulden. Vater griff nach den Scheinen und ließ dabei endlich meine Haare los. Sofort trat ich ein paar Schritte zurück. Mein Kopfhaut schmerzte, trotzdem war ich froh, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Vater stemmte sich schwankend aus dem Sessel hoch und ging zur Haustür. Dort drehte er sich noch einmal zu mir um. Ich war auf dem Boden vor dem Sofa sitzen geblieben.

„Bis dann, kleine Nutte..." Es tat weh, dass er mich so nannte. Ich fühlte mich so dreckig, als wäre ich hier diejenige, die im Unrecht war. Er behandelte mich mit solch einer Geringschätzung, die selbst für ihn neu war. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sanken meine zuvor angespannten Schultern nach unten. Ein Schluchzer entwich mir. Ich zog die Beine an und umklammerte sie. Wie von selbst begann ich, nach vorn und hinten zu wippen.

Nach ein paar Minuten holte ich mein Handy heraus und schrieb Ryan. Wir hatten letzten Abend erst geschrieben und uns schöne Weihnachten gewünscht. Ich wusste, dass er mir um diese Uhrzeit nicht antworten würde, trotzdem konnte ich es nicht lassen und schrieb ihm.

Ich vermisse dich... Ein paar Sekunden starrte ich den Bildschirm an, dann löschte ich es wieder. Das konnte ich ihm unmöglich schreiben. Eine Weile schwebte mein Finger unschlüssig über dem Handy.

Ihr kommt erst am Ende der Weihnachtsferien wieder, oder? war mein nächster Versuch. Das fand ich schon besser, meine Verzweiflung schrie nicht ganz so stark aus dem Handy. Ich überlegte noch kurz, dann schickte ich die Nachricht ab und ging ins Bett.

Es stellte sich in den Ferien außerdem heraus, dass Panther mich wesentlich öfter fürs Arbeiten eingeplant hatte, als ich gedacht hatte. So arbeitete ich schließlich fast jeden Abend und mein Rhythmus verschob sich vollkommen. Ich kam durchschnittlich morgens um sechs Uhr ins Bett und stand mittags um zwei Uhr wieder auf. Mich gruselte es schon vor den ersten Schultagen, wenn ich wieder gezwungen sein würde, um sechs Uhr morgens aufzustehen.

Am Freitag, bevor die Schule wieder anfangen würde saß ich abends in der Küche und las ein Buch für den Wirtschaftskurs, das wir über die Ferien lesen sollten. Panther hatte mir für diesen Abend freigegeben, wofür ich dankbar war. Ich musste noch diverse Hausaufgaben für die Schule erledigen. Ich war noch nicht besonders weit gekommen bei dem Buch und als ich auf die Küchenuhr schaute, war auf einmal elf Uhr. Ich kniff ein paar Mal die Augen zusammen und überlegte, ob ich für heute aufgeben sollte, oder noch ein paar Seiten lesen sollte.

Gerade als ich beschlossen hatte, noch ein paar Seiten zu versuchen, vibrierte mein Handy. Ich schaute drauf und sah, dass ich eine neue Nachricht von Ryan bekommen hatte. Unwillkürlich verzogen meine Lippen sich zu einem Lächeln, wie gefühlt jedes Mal, wenn ich eine neue Nachricht von ihm bekam.

Schau mal aus dem Fenster ;)

Ich runzelte meine Stirn. Woher sollte er wissen, aus welchem Fenster ich schauen würde? Doch ich drehte mich um, kniete mich auf die Küchenbank und sah in die schwarze Nacht. Schnell merkte ich, dass ich nichts sah, nur mein leicht unscharfes Spiegelbild blickte zurück. Ich öffnete das Fenster, um auf die Straße herunterblicken zu können und da sah ich ihn.

Ryan stand mitten auf der Straße und winkte. Seine Haare waren gekonnt zerzaust, seine Augen blitzten und um seinen Mund spielte sein  gewöhnt spöttisches Lächeln. Ich konnte es kaum glauben. Gleichzeitig wurde mir die Unvernünftigkeit bewusst. Es war Freitagabend, in unserem Viertel! Und Ryan stand dort unten ohne Schutz, alleine.

„Bleib genau da stehen, ich komme runter!", rief ich ihm zu und schloss das Fenster wieder. Ich hatte keine Ahnung, was er schon hier machte, sie wollten doch erst am Sonntag wiederkommen, doch ich freute mich wahnsinnig. Wie ein Wirbelwind fegte ich das Treppenhaus herunter, öffnete die Haustür und da stand er. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt und grinste mich an. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und fiel in seine Arme.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt