Das Versteck

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Am nächsten Morgen wachte ich schweißgebadet auf und merkte, dass Mary und ich zu zweit in dem dafür viel zu kleinen Bett geschlafen hatten. Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers zeigte mein Wecker halb sechs, draußen war es noch stockfinster. Vorsichtig befreite ich mich aus Marys Umklammerung und stand auf. Eigentlich war es noch viel zu früh zum Aufstehen, aber ich fühlte mich viel zu aufgewühlt, um wieder einschlafen zu können.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich an den Traum zurückdachte, den ich letzte Nacht gehabt hatte, ein schwaches Überbleibsel der Angst, die ich im Traum empfunden hatte. Müde rieb ich mir durchs Gesicht, stand auf und streckte mich. Dann stellte ich den Wecker aus und ging ins Badezimmer. Am liebsten hätte ich mich in die Badewanne gelegt, doch das verbrauchte so viel Wasser, also musste eine kurze heiße Dusche reichen.

Nachdem ich meine Haare geföhnt hatte, betrachtete ich mich im Spiegel. Die Blutergüsse an meinem Bauch waren so gut wie verschwunden, ebenso die roten Striemen auf meiner Rückseite. Auch die Platzwunde neben meinem linken Auge war gut verheilt. Allerdings waren an meinem Hals blaue Flecken zu erkennen, wo die Hand von diesem Lionel mir die Luft abgedrückt hatte. An der linken Seite meines Halses, so nah an meiner pochenden Schlagader, konnte man die Schnittwunde an meinem Hals sehen. Als ich den verkrusteten Schnitt vorsichtig berührte, verzog ich das Gesicht vor Schmerz. Schnell ließ ich die Hand wieder sinken. Nachdenklich starrte ich meinem Spiegelbild in die Augen. Schwarze Abgründe starrten zurück. Unmöglich, zu erraten, was sich hinter ihnen abspielte.

Meine dummen Gedanken weit fort schiebend, ging ich zurück in mein Zimmer und zog mich an. Ich musste langsam entscheiden, was mit dem Zimmer unserer Mutter passieren sollte. Jetzt war es fast eine Woche leer. Aber es behagte mir nicht, hineinzugehen. Meine Mutter war noch zu präsent, genauso wie die letzte Nacht, die ich mit ihr verbracht hatte. Die schlimmste Nacht meines ganzen Lebens...

Als ich wenig später Finn aus seinem kleinen Bettchen nahm, fiel mir auf, wie groß er geworden war und wie schwer. Ich dachte kurz nach und stellte dann verwundert fest, dass er fast schon elf Monate alt war. Wurde langsam Zeit, dass er laufen lernte. Oder konnte er es schon längst? Mit einem schlechten Gewissen merkte ich, dass ich es nicht wusste.

„Na du? Kannst du schon laufen, Kleiner?", fragte ich ihn flüsternd. Er strahlte mich an und gab ein niedliches Glucksen von sich, das mich automatisch zum Grinsen brachte. Zärtlich stupste ich seine kleine dunkle Nase an. Vorsichtig stellte ich ihn probeweise auf den Boden und tatsächlich, er krallte seine kleinen Hände in meine Hose, aber er konnte sich ohne große Probleme auf den Beinen halten.

Erstaunt beobachtete ich ihn. Dann nahm ich seine kleinen Hände und half ihm, Schritt für Schritt in die Küche zu laufen.

„Guckt mal, Finn kann laufen!", rief ich meinen Geschwistern schon aus dem Flur zu. Als wir in der Küche ankamen, sah ich nur irritierte Gesichter. Mary lachte leise auf.

„Liz, er kann schon seit zwei Wochen oder so laufen..." Augenblicklich hatte ich ein noch größeres schlechtes Gewissen. Ich sollte wirklich mehr von meiner Familie mitbekommen...

Mittags beschloss ich, dass es nun endgültig zu kalt war, um die Mittagspause draußen zu verbringen. Aber ich würde einen Teufel tun und in die Cafeteria gehen. Stattdessen ging ich in unsere verwinkelte Bibliothek, um mich dort in einer schwer zu findenden Ecke, halb versteckt hinter einem Regal auf die Fensterbank zu setzen.

Den größten Teil der Mittagspause genoss ich die Ruhe. Doch als ich mich schon freuen wollte, dass Ryan anscheinend nicht fand und vermutlich draußen in der Kälte bei der Buche stand und auf mich wartete, wurde ich eines Besseren belehrt. Niemand geringeres als Ryan zwängte sich durch den schmalen Spalt zwischen Bücherregal und Wand, wobei er fluchte, dass die Engel weinten.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt