Changes

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Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Woher er wohl die Narbe an der Augenbraue hatte? Er wirkte nicht nur größer und breiter als ich ihn in Erinnerung hatte, nein, auch irgendwie... gefährlicher. Ich wollte schon wieder seufzen, als mir klar wurde, dass er mir fremd geworden war. Mein Bruder, die Person, von der ich noch vor einigen Jahren geschworen hätte, dass ich sie so gut kannte wie niemanden sonst auf der Welt, war eine fremde Person für mich geworden. Hieß das im Umkehrschluss, dass auch er mich als fremd und verändert wahrnahm?

Ich wusste, dass auch ich mich in den letzten beiden Jahren verändert hatte. Ich hatte nach und nach alle Kontakte zu Marcs und meinen alten Freunden abgebrochen, zu sehr erinnerten sie mich an meinen Verlust. Auch in der Schule hatte ich mich zurückgezogen, mit niemandem mehr ein Wort gewechselt, wenn es nicht unbedingt sein musste, abgesehen von meinen Geschwistern. Ich hatte mich ganz darauf konzentriert für sie da zu sein, weil Mama ständig arbeiten war und Vater mehr und mehr zu einem Monster wurde. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mich selbst vernachlässigt hatte.

Das Bedürfnis, unser unbehagliches Schweigen zu unterbrechen, wurde übermächtig und so brachte ich die Frage hervor, von der ich glaubte, sie am ehesten stellen zu können: „Was hast du die letzten beiden Jahre so gemacht?" Ich versuchte, meine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, als wäre mir die Antwort gar nicht so wichtig, doch ich hatte das Gefühl, es gelänge mir nicht so ganz.

„Ich...", Marc blickte auf den Boden, seine Augenbrauen waren fest zusammengezogen, "die erste Zeit war hart, ich habe im Prinzip auf der Straße gewohnt, oder ich bin bei unseren alten Freunden untergekommen, aber nur wenn sie mir versprochen haben, dir nichts zu erzählen..." Leise Wut stieg in mir auf, als ich daran dachte wie verzweifelt in in der ersten Zeit nach Marc gesucht hatte. Wie viele meine 'Freunde' hätten mir wohl helfen können? "Dann habe ich... eine Art Arbeit als Junge für alles gefunden...", erklärte Marc, jetzt er ließ seine Stimme betont unbeschwert klingen, „später habe ich als Türsteher angefangen."

„Warst du die ganze Zeit in Philly?", bohrte ich nach und er nickte. Ein Stich fuhr mir in den Bauch als mir klar wurde, wie nah er die ganze Zeit gewesen war, dass er die ganze Zeit in der gleichen Stadt gewesen war, rein theoretisch immer in meiner Reichweite, wenn ich denn gewusst hätte, wo er sich versteckte.

„Warum bist du jetzt hergekommen?", kam ich der wichtigsten Frage schon näher. Marc blickte verlegen nach unten.

„Mein Kumpel...", er zögerte, musterte mich kurz und beschloss dann wohl, dass ich vertrauenswürdig genug war, „er ist in Schwierigkeiten geraten. Verdammte große Schwierigkeiten, die Sorte aus der du normalerweise nur mit einer Kugel im Schädel wieder herauskommst." Er schwieg kurz und ich merkte, dass ich ein flaues Gefühl im Magen hatte.

„Okay, was hast du damit zu tun?", fragte ich.

„Wir haben uns eine Wohnung geteilt, falls man das Loch überhaupt Wohnung nennen will. Ich hatte einfach das Gefühl, es wäre besser, wenn ich dort ein paar Tage nicht auftauchen würde, zumindest bis sich die Lage beruhigt hat..." Ich verzog den Mund. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er wäre nicht ganz ehrlich zu mir. Ich hatte ihn vermisst und ich wollte nicht, dass er so schnell wieder ging, doch ich musste auch an meine anderen Geschwister denken.

„Was passiert, wenn deine Leute herausfinden, dass du hier bei uns bist?", meine Stimme klang kalt, doch mein Herz pochte. Ich könnte ihm nicht verbieten, hier zu bleiben, oder? Das würde ich nicht übers Herz bringen. Marc sah mich gequält an.

„Ich weiß es nicht. Aber das wird nicht passieren, ok?" Ich wusste nicht genau, ob ich ihm glauben sollte. Doch ich beließ es vorerst dabei.

„Warum bist du nicht zu Mamas Beerdigung gekommen?", sprach ich die nächste Baustelle an. Ein Thema, welches mir schon wesentlich mehr zu schaffen machte. Marc schloss kurz die Augen und als er sie wieder öffnete, meinte ich, Tränen darin zu sehen.

„Glaub mir, wenn es nur nach mir gegangen wäre, wäre ich gekommen", seine Stimme klang rau, „aber ich konnte nicht." Er sah so voller Reue aus, dass ich kurz seine Hand tätschelte, um ihn zu beruhigen.

„Warum konntest du denn nicht?", wollte ich trotzdem wissen. Marc ließ seine Hände knacken. Das machte er immer, wenn er sich unwohl fühlte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Die Erkenntnis entlockte mir ein leichtes Lächeln. Es hatte sich also nicht alles geändert.

„Ich... Das kann ich dir nicht sagen", meinte er, „vielleicht irgendwann einmal, aber jetzt noch nicht." Ich zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, sagte jedoch nichts mehr. Dazu würde ich wohl zumindest heute wirklich nichts mehr aus ihm herausbekommen.

Das Abendessen war schön aber auch irgendwie seltsam. Marc fragte David und Lily aus und sie erzählten ihm fleißig alles, was sie in letzter Zeit in der Schule gemacht hatten. David erzählte von den Superhelden, die er am meisten mochte und Lily erzählte von einem Schulausflug. Mary und ich waren ein bisschen zurückhaltender. Mary zögerte, bevor sie offenbarte, dass sie mit einem Jungen zusammen war. Vielleicht fürchtete sie sich ein bisschen vor Marcs Reaktion, doch er runzelte zwar die Stirn, sagte aber nicht Abfälliges dazu.

Ich weiß nicht, ob es auch Mary auffiel, aber mir wurde irgendwann klar, dass Marc uns zwar sehr viel fragte, selbst jedoch fast nichts erzählte und meist ausweichend auf Fragen antwortete. Immerhin erzählte er ein bisschen vom Großen und Ganzen. Er wohnte sein einem Jahr mit einem Kumpel zusammen und sie verstanden sich wohl auch ganz gut. Er hatte einen Job als Türsteher, der in Ordnung war und ihm die nötige Kohle zum Leben verschaffte. Darüber, wo er das erste Jahr über gewohnt hatte, und wo er das erste Jahr als Junge für alles gearbeitet hatte, schwieg er sich beharrlich aus, was mir ein bisschen Bauchschmerzen bereitete. Was war nur mit ihm passiert?

Da es sowohl David und Lily, als auch mir nicht sehr gut ging, beendeten wir das Abendessen relativ zeitig und gingen ins Bett. Ich überließ es Mary, mit Marc das Sofa zu beziehen und brachte David und Lily ins Bett. Bevor ich mich selbst dem wohligen Schlaf überließ, schaute ich nochmal ins Wohnzimmer. Marc bemerkte mich und kam noch kurz zu mir, während Mary eine Decke in einen dunkelblauen Bezug stopfte.

„Mary ist echt hübsch geworden", merkte Marc an und ich versuchte, nicht allzu verletzt zu sein, darüber dass auch er sie hübscher fand als mich. „Es ist eigentlich kein Wunder, dass sie schon einen Freund hat. Ich hoffe, er behandelt sie auch gut, sonst kann er sich auf was gefasst machen." Ich musste kurz lächeln. Wir hatten den gleichen Gedanken gehabt.

„Ich glaube, er ist schon gewarnt. Ich habe gedroht, ihm seine wertvollsten Teile abzuschneiden, sollte er ihr wehtun", erzählte ich und Marc lachte auf. Ich spürte seinen Blick auf mir liegen.

„Ja, das passt zu dir", meinte er trocken.

„Ich weiß", erwiderte ich und wünschte ihm eine gute Nacht.


So, das wars mal wieder, ich hoffe es gefällt euch. Voten und kommentieren nicht vergessen. Schönen Sonntag euch noch ;)

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt