You know nothing

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Auch die Mittagspause verbrachten Ryan und ich zusammen. Wir saßen wieder in der Bibliothek hinter den Regalen am Fenster. Keiner von uns erwähnte unseren Beinahe-Kuss am Freitag oder unsere Worte danach, vor dem Schultor. Stattdessen redeten wir über unverfängliche Dinge.

Es waren nur noch zwei Wochen bis zu den Weihnachtsferien und Ryan erzählte mir, dass er mit seiner Familie in die Rocky Mountains fliegen würde, zum Skifahren. Sie gingen wohl jedes Jahr in denselben Ort und er freute sich wieder sehr darauf.

„Devil kommt auch mit ihrer Familie", meinte er und ich lächelte. Ich hatte sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber wir schrieben fast jeden Tag miteinander und ab und zu telefonierten wir. Erst am Samstag hatte sie mir erzählt, dass sie sich endlich getraut hatte, das Mädchen, auf das sie schon seit Ewigkeiten stand, nach einem Date zu fragen. Sylva hieß sie, Devil hatte mir ein bisschen von ihr erzählt, und hatte blonde lange Haare. Devil zufolge sah sie aus wie ein auf die Erde gefallener Engel. Sie hatte zuerst wohl eher abgeneigt gewirkt, hatte dann aber zugesagt. Soweit ich wusste, wollten sie sich diese Woche am Freitag treffen. Ich hoffte für Devil, es würde gut laufen.

„Was machst du so in den Weihnachtsferien?", fragte Ryan mich. Ich seufzte.

„Wahrscheinlich arbeiten." Er runzelte die Stirn.

„Oh man, du Arme. Das ist ja ätzend. Aber an den Feiertagen hast du frei, oder?" Ich dachte nach.

„Ich glaube eher nicht", meinte ich unbedacht und zog den einen Mundwinkel nach oben. Ryan schwieg für ein paar Sekunden, in ihm arbeitete es.

„Aber der Supermarkt, wo du arbeitest, hat doch an Feiertagen gar nicht offen..." Siedend heiß fiel es mir ein. Stimmt, ich hatte ihm noch nicht erzählt, dass ich gefeuert worden war.

„Ich habe am Freitag in einem ... Club angefangen. Ich bin in dem Supermarkt gefeuert worden, weil ich einen Tag nicht zur Arbeit erschienen bin." Ich würde Ryan ganz sicher nicht erzählen, dass ich in einem Striplokal arbeitete. Ich fürchtete zu sehr, er könnte dann nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.

„Ernsthaft? Die haben dich gefeuert, nur weil du einen Tag nicht da warst? Was für Wichser!" Ryan regte sich richtig auf.

„Hey, ist schon in Ordnung, der Filialleiter war ein totales Arschloch. Eigentlich kann ich von Glück reden, dass ich nichts mehr mit dem zu tun haben muss", versuchte ich, ihn zu beruhigen und verschwieg, dass ich trotzdem lieber weiterhin im Supermarkt gearbeitet hätte.

„Warum musst du denn eigentlich überhaupt arbeiten?", fragte Ryan nun, „willst du dir dein Taschengeld aufbessern?" Mein Gesicht entgleiste mir für einen Moment. Scheiße, wie kam er denn jetzt da drauf? Bisher hatte ich es immer vermeiden können, von meinen Eltern zu reden, von unserer finanziellen Lage, er wusste noch nicht einmal, in welchem Stadtteil ich wohnte. Er hatte keine Ahnung, dass mein Vater Alkoholiker war, ich hatte ihm nie erzählt, dass meine Mutter gestorben war, nur schweigend die Ablenkung genossen, die er mir schenkte.

War jetzt die Zeit gekommen, um ihm die Wahrheit zu erzählen? Was würde er dann von mir denken? Würde er mich noch mögen? Vielleicht konnte ich ihm ja zumindest einen Teil der Wahrheit erzählen...

„Mein Vater hat seit Ewigkeiten keinen Job, deswegen verdiene ich das Geld..." Verunsichert starrte ich auf meine Hände. War das schon zu viel gewesen?

„Krass, deswegen wirkst du immer so gestresst...", er überlegte kurz, „aber was ist denn mit deiner Mutter? Und warum fällt mir eigentlich erst jetzt auf, dass du fast nie über deine Familie redest?"

Ich seufzte. Wollte ich schon über den Tod meiner Mutter reden? Ich kämpfte mit mir. Ich wollte Ryan so gern vertrauen, ihm alles erzählen, alles was mich beschäftigte, doch mein Misstrauen gegenüber Menschen war einfach zu groß. Ich war zu sehr gewöhnt, mich niemanden anvertrauen zu können.

„Meine Familie ist ... schwierig", ich schwieg kurz, „erzähl mir lieber noch mehr von den Rockys, wohnt ihr da in einem Hotel?" Ryans Blick lag auf mir, dann beschloss er wohl, meinen radikalen Themawechsel zu ignorieren.

„Nein, wir haben ein Chalet, das meinem Vater gehört. Mit Whirlpool und Sauna und so. Es ist ein Familienurlaub, also ist alles ziemlich leger, nur drei Gänge zum Abendessen und so, weißt du?" Nein, eigentlich wusste ich gar nichts. Alles was er erzählte, war so weit weg von meinem Leben, meiner Realität. Gleichzeitig konnte ich nicht umhin, diese wahnsinnige Ungerechtigkeit zu bemerken. Wieso durfte er in die Rockys fliegen und dort Drei-Gänge-Menus essen, während ich in den letzten Monaten teilweise nicht gewusst hatte, was ich meinen Geschwistern zum Abendbrot machen sollte.

„Das klingt ... wundervoll", seufzte ich. Ryan musste meine niedergeschlagene Stimmung bemerkt haben, denn er rutschte nah an mich heran und legte einen Arm um mich. Obwohl es Ryan war und obwohl ich solche Nähe nicht gewöhnt war, genoss ich die Wärme.

„Was hältst du davon, wenn ich meinen Vater frage, ob du mitkommen kannst? Das wäre bestimmt voll cool!" Seine wunderschönen blauen Augen blickten direkt in meine Seele.

„Ryan, ich kann nicht einmal Skifahren..." Wie sehr ich mir doch wünschte, ich könnte es. Er runzelte die Stirn.

„Echt jetzt? Du kannst kein Skifahren?" Die Ungläubigkeit in seiner Stimme machte mich wütend. Ich rutschte von ihm weg und sein Arm sank von meinen Schultern.

„Selbst als mein Vater noch einen Job hatte, hatten wir nie besonders viel Geld! Nein, ich habe nie Skifahren gelernt, weil wir uns so etwas nicht leisten konnten. Ich habe auch noch nie in meinem Leben ein Drei-Gänge-Menu gegessen!" Ich war lauter geworden, als ich beabsichtigt hatte. Nun atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen. Ryan sah mich leicht entgeistert an. Beschämt schlug ich meine Hände vors Gesicht. Ich hatte mehr gesagt, als ich eigentlich hatte offenbaren wollen.

„Verdammt, Ryan, du weißt nicht einmal, wo ich wohne. Stell es dir einfach als die Bronx in Philly vor... Du hast keine Ahnung von meinem Leben!", meine Stimme brach. So lange hatte ich es zurückgehalten. Hatte so getan, als sei ich ein ganz normales Mädchen, deren Eltern genug Geld verdienten, das sich keine Gedanken darum machen musste, wie es die Schulden ihres Vater begleichen sollte, das sich nicht um die Beerdigung seiner Mutter kümmern musste.

Einige ganze Weile herrschte Stille. Dann spürte ich, zuerst so leicht wie die Berührung eines Schmetterlings, eine Hand auf meinem Rücken. Sanft strich sie hinab, dann ganz langsam wieder hinauf.

„Es tut mir leid", hörte ich Ryan. Seine Stimme war leise, fast flüsterte er. „Es tut mir so leid. Wie konnte ich nicht bemerken, wie sehr dich das belastet?"

Ich erwiderte nichts. Einige Minuten saßen wir so schweigend nebeneinander. Ich mit angezogenen Knien, das Gesicht in den Händen versteckt, er neben mir. Seine Hand streichelte weiterhin unablässig über meinen Rücken. Ich spürte, wie ich mich langsam beruhigte und eine tiefe Ruhe mich überkam. Ich fühlte mich einfach nur noch müde.

Irgendwann hob ich mein Gesicht von meinen Händen. Obwohl ich nicht geweint hatte, fühlte es sich seltsam wund an. Ich blickte zu Ryan und er erwiderte meinen Blick, seine blauen Augen so weich und tiefblau, wie eine Lagune. Ich versuchte mich an einem Lächeln und atmete dabei halb seufzend, halb lachend aus.

„Tja, ich schätze, das musste einfach mal raus..."

"Falls du darüber reden möchtest, kannst du immer zu mir kommen, in Ordnung?", meinte Ryan und seine Stimme war so weich wie Samt.

Ich nickte erleichtert.

The dark inside meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt