-Nicolai-
„Das machst du wirklich gut. Du wirst immer besser" Lobte mich Amanda, als ich, mit ein wenig Hilfe ihrerseits, versuchte einen Kuchen zu backen. Um ehrlich zu sein, war es nicht ansatzweise so leicht, wie ich gedacht hatte.
Überhaupt waren die meisten Dinge, nach meiner Nahtoderfahrung, alles andere, als leicht. Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, noch einen einigermaßen Funktionsfähigen Körper zu haben. Das bedeutete jedoch nicht, dass die ersten Wochen, nein.. die ersten Monate, nicht anstrengend waren, denn das waren sie. Es fiel mir zu Anfang schwer, mich länger als fünf Minuten auf etwas zu konzentrieren, da ab da die Kopfschmerzen einsetzten. Noch dazu gehorchte mein Körper nicht auf die Befehle, die ich ihm gegeben hatte. Es musste alles nach und nach wieder trainiert werden und das war eines der schlimmsten Dinge. Zu wissen, wie etwas ging, doch der Körper es nicht verstand.
Es war völlig normal, dass man nach so einer langen Zeit im Koma, nicht sofort startklar für das nächste Abenteuer war, doch es hatte mir Angst bereitet, als ich erst wieder üben musste, alleine zu gehen. Völlig alltägliche Dinge, wie die Hand zu einer Faust zu ballen, Essen zu kauen oder ohne Strohhalm trinken zu können, wurden zu Herausforderungen, die ich allein bewältigen musste.
Ich hatte meine Freunde, die mir bei vielen Dingen halfen, doch es lag an mir, ob die Übungen Erfolg versprachen. Und das taten sie. Ich hatte viel geübt und gelernt, sodass ich den wohl schwierigsten Teil hinter mir hatte. Ich hatte zwar noch meine Mängel, was die Geschwindigkeit betraf, da ich das Gefühl hatte, mich nur in Zeitlupe zu bewegen. Das bedeutete auch, dass meine Reflexe minder gesagt, nicht vorhanden waren.
„Nic, Pass auf!"
Ich sah noch, wie der Teller kippte und anschließend aus dem Regal, hinunter auf den Boden schepperte. Ich wollte grade noch danach greifen, doch meine Hand öffnete sich zu langsam, um dass ich den Teller hätte greifen können.
„Fuck!" brüllte ich plötzlich auf und schlug meine Hand wütend auf die Arbeitsfläche.
Hatte ich eben noch in Ruhe und Frieden versucht einen Kuchen zu backen, so schien ich plötzlich voller Zorn aufgebracht zu sein.
„Es ist alles gut. Es war nur ein dummer Teller. Vergiss ihn. Konzentrier dich weiter auf den Teig, ich kümmer mich um die Scherben." Versuchte Amanda mich zu beschwichtigen, doch ich erkannte die Angst in ihren Augen. Die Angst vor mir.
Es war zwar kein großer, mentaler Schaden übrig geblieben, doch seitdem ich wieder unter den lebenden wandelte, war meine Aggression gestiegen. Ich verlor schneller die Fassung und hatte ab und zu meine kleinen Wutausbrüche, die manchmal doch nicht so klein waren, wie sie sollten.
Dr. Harper erwähnte solche Situationen zwar und betitelte es als, Gewöhnungsphase, da mein Körper und auch meine Emotionen eine lange Zeit lahm gelegt waren. Es war also wie eine Selbstfindungsphase, in der alles in mir, versuchte einzuschätzen, was wann angemessen war. Jedoch machte ich mir bei dieser sogenannten Phase etwas sorgen. Immerhin war es nun schon fast ein Jahr her, seit ich aus dem Koma erwacht war. Danach war ich für gut Zehn Monate in einer netten kleinen Anstalt, in der mir ein Team aus drei Pflegern dabei geholfen hatte, mich wieder zu bewegen. Erst vor knapp zwei Monaten war ich wieder nach Hause gekommen und es war somit das erste Mal, seit meinem Unfall, dass ich allein lebte und es war anstrengender als gedacht. Amanda und die anderen hatten es sich zwar zur Aufgabe gemacht, jeden Tag einmal bei mir vorbeizuschauen, doch ich wusste, dass sie mich überhaupt nicht einschätzen konnten und manchmal Angst hatten. Dieser Umstand, dass ich scheinbar so Unberechenbar wirkte, machte auch mir Angst.
Sie sagten mir zwar ständig, dass ich mich verbesserte, jeden Tag einen kleinen Fortschritt machte, doch sowohl mir, als auch ihnen war klar, dass ich nie wieder so sein würde, wie früher. Womöglich war das der Grund, wieso Austin in meiner Gegenwart nicht mehr so unbeschwert leben konnte. Nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Freundschaft hatte mit diesem Unfall einige, schwere Verletzungen mit sich getragen.
Ich hatte ihm nie Vorwürfe gemacht und er wusste, dass ich ihn nie hassen würde, doch er schien es sich selbst nicht Verzeihen zu können und das ließ ihn zögern. Bei allem was er tat, er zögerte, sobald ich dabei war.
„Vielleicht sollten wir eine kleine Pause machen?" fragte Amanda mich vorsichtig und strich sanft über meinen Arm. Diese liebevoll gemeinte Geste, ließ mich schreckhaft zusammenzucken und ein Stück von ihr weichen.
„E-Es tut mir leid." Murmelt sie entschuldigend und sah mich mitleidig an.
Noch so eine Sache. Jede einzelne Berührung schien unerträglich. Es war etwas anderes, als die Pfleger mir in der Reha geholfen hatten. Wenn sie mich beim Gehen festhielten oder mir aufhalfen, wenn ich nicht allein aufstehen konnte. Ich wusste nicht woran es lag, doch jede Berührung, die nicht unvermeidbar war, ließ mich innerlich aufschreien. Jedes Mal, wenn das passierte, schien etwas in den anderen zu zerbrechen. Es war nicht nur das Mitleid, sondern auch die Angst, die sie verspürten.
Ich versuchte diesen Teil von meinem neuen Ich zu verstecken, doch es war schwer. Alles war so schwer. Und dann war da noch diese Leere in mir. Diese unbeschreibliche Leere, ohne Gesicht. Diese Leere, die mich nachts heimsuchte, sobald ich im Bett lag und zu schlafen versuchte.
Ich fasste mir vorsichtig an die Brust und schloss die Augen. Tief durchatmen.
Bewahre Ruhe, Halte Verstand und fokussiere das Wichtige.
Ein Mantra, welches mich durch die Reha begleitet hatte und auch nun seine Wirkung zeigte. Es war sehr wichtig für mich, die Ruhe zu bewahren, da ich mit nur einem Lungenflügel bedachter mit meiner Atmung umgehen musste. Mir wurde gezeigt, wie ich den Sauerstoff sparen konnte, indem ich flacher atmete, doch in hektischen Situationen war das natürlich nicht möglich. Also hieß es, immer schön Ruhe bewahren. Das war leichter gesagt, als getan.
Ich lauschte den alltäglichen Geräuschen und versuchte, mich auf das Wichtigste zu konzentrierten.
Ich hörte, wie Amanda die Scherben wegfegte.
Ich hörte, wie im Nebenzimmer das Radio lief.
Ich hörte Autos, die vom Parkplatz fuhren.
Türen, die zugeschlagen wurden.
Fliegen, die im Zimmer surrten.
Das Rauschen, des alten Receivers.
Das Piepen, des Backofens.
Das Pochen, meines Herzens.
Ich öffnete meine Augen und alles war still. Nur das stetige Pochen umgab mich. Es hatte sich so viel geändert und doch kam es mir so vor, als wenn ich immer so gelebt hätte. Manchmal war es, als wenn ich alles hören könnte. Alles und dann wieder nichts. Nur das Pochen, welches mir versicherte, dass ich lebte. Manchmal hörte ich es nicht nur, sondern spürte, wie meine Brust im Takt vibrierte. Wie mein Blut durch die Adern floss.
Ich war empfindlicher geworden. Meine Sinne wurden schneller gereizt. Manchmal stach das Licht so schmerzhaft in meine Augen, dass ich befürchtete, zu erblinden. Manchmal waren die Geräusche um mich herum so unerträglich, dass ich die Einsamkeit vorzog. Dann brauchte ich einen Moment, bis ich mein Herz schlagen hören konnte.
Diese Geste schien ungewöhnlich, doch es beruhigte mich ungemein. Es war, wie wenn meine Gefühle und Gedanken mit dieser Geste gelöscht wurden und ich von vorn anfangen konnte.
„Möchtest du dich hinlegen? Wir können das mit dem Kuchen auch auf nachher verschieben." Schlug Amanda vor, als sie mich stehend im Wohnzimmer vorfand. Ich drehte mich mit einem ruhigen Lächeln zu ihr und schüttelte sachte den Kopf.
„Nicht nötig. Mir geht es gut."
Und in diesem Moment glaubte ich das wirklich.
Ich glaubte daran, dass es mir gut ging.
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See You Again (Band 2)
RomanceNachdem Nicolai sich von seinen Verletzungen erholt hat und endlich aus dem Koma erwacht, muss Levin erschütternd feststellen, dass er vergessen wurde. Während Nicolai sein Leben, ohne dem Wissen, seinen Geliebten im Dunkeln stehen zu lassen, weite...