Kapitel 3.

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 – Nicolai-

Der Tag hatte gut angefangen. Das Wetter war erstaunlich schön, für Ende Februar. Es war Freitag und ich freute mich darauf, zum Abend hin mit den anderen auszugehen. Alles war friedlich, bis ich in den Briefkasten blickte und einen Brief hervorkramte, der mir weismachen wollte, dass mein Studium gefährdet sei.

Sehr geehrter Herr Zwetkov,

...bla bla bla..

..Erkrankung..

Bla bla bla..

.. wird für die Fortsetzung ihres Studiums ein Eignungstest gefordert.

Erkrankung? Ich hatte einen beschissenen Autounfall und kein Aids. Und dann sollte ich einen Eignungstest machen? Mir war zwar bewusst gewesen, dass ich das Semester wiederholen musste, doch einen Eignungstest?

Ich seufzte, als ich begriff, was das für mich bedeutete.

Durch den Unfall wurde meine rechte Gehirnhälfte schwer belastet. Das bedeutete, dass meine motorischen Fähigkeiten betroffen waren. Durch die Reha konnte ich das Meiste zwar wieder erlernen, doch es war unglaublich schwer, wenn es um filigrane Dinge ging. Mir fiel es immer noch schwer, zu schreiben. Man konnte es zwar mit viel Mühe erkennen, doch ich würde nie wieder meine alte Handschrift beherrschen können. Dasselbe galt dann natürlich auch für mein Studium. Ich war nicht in der Lage zu operieren. Ich war Linkshänder. Es war offensichtlich, dass ich damit nicht mehr arbeiten konnte.

Jeder Mediziner wusste, dass die rechte Gehirnhälfte für die linke Hand und die linke Hälfte für die rechte Hand zuständig war. Ich hatte also meine „gute" Hand verloren. Ich konnte damit zwar grob arbeiten, aber für eine Operation war sie unbrauchbar. Ich bekam es ja kaum zustande, auf der Tastatur meines Laptops zu tippen, ohne einen Wutanfall zu bekommen. Wo wir schon bei meinem nächsten Problem wären. Ich hatte meine Emotionen überhaupt nicht unter Kontrolle. Ich war eine tickende Zeitbombe, die wegen jeglichen Reizen an die Decke gehen konnte.

Was sollte ich bloß tun? Ich hatte geglaubt, mit ein wenig Geduld würde sich das alles wieder legen, doch dem war nicht so. Natürlich nicht. Ich hatte die letzten Monate mein Krankengeld bekommen und nun? Ich würde mein Studium verlieren, würde niemals zu dem Arzt werden können, der ich immer sein wollte und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich hatte das Gefühl, im Kreis zu rennen. Es war, als wenn ich meinem Ziel einfach nicht näher kommen sollte. Dennoch wollte ich nicht kampflos aufgeben. Ich musste diesen Eignungstest bestehen. Ich musste es schaffen. Ich konnte nicht aufgeben. Ich hatte doch dann gar keine Zukunft mehr. Gar kein Leben.

Es war als würde ich alles verlieren und mit einem Schlag fühlte ich mich, als wenn ich bereits etwas verloren hatte. Als wenn etwas brutal aus meinem Leben, aus meinem Herzen, gerissen wurde. Vorsichtig griff ich an meine Brust. Es tat weh. Es fiel mir schwer, zu atmen, während der Schmerz sich quälend langsam über meinen Körper ausbreitete. Es schnürte mir nach und nach die Kehle zu. Ein lähmender Schmerz, den ich nicht definieren konnte, übernahm mich und brachte mich zum Fall. 

Erschöpft lag ich auf dem Wohnzimmerboden und verstand nicht, was hier passierte. Das hier war kein Herzinfarkt.. es waren Gefühle? Meine Gefühle? Ähnlich, wie bei meinen Wutausbrüchen, stürzten die Emotionen über mich herein, ohne dass ich es hätte abwehren können. Ich versuchte zu verstehen, was das für Gefühle waren. Woher sie kamen und was sie mir sagen wollten. Ich erkannte die Trauer, den Schmerz, die Angst und etwas, dass mich am meisten überraschte. 

Liebe. 

Doch ich wusste nicht, woher diese Gefühle kamen. Wozu sie gehörten. Es ging hier um etwas ganz anderes, als mein Studium. Das war mir bewusst. Die Tränen flossen unaufhaltsam meine Wangen hinab und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass dieser Schmerz endete.

Ich lag eine ganze Weile zusammengekauert auf dem Boden, bis jegliche Tränen versiegt waren. Bis ich zu erschöpft war, um irgendetwas zu empfinden. Wie eine leere Hülle, setzte ich mich langsam in Bewegung. Ich stand auf, ging ins Bad und starrte mein Spiegelbild an. Diese Leere in mir.. es war, als wenn ich jegliches Gefühl aufgebraucht hätte.

Was passierte hier?

Ich wollte das Treffen heute Abend absagen, doch ich wusste, dass wenn ich nicht auftauchte, die anderen sich nur wieder Sorgen machen würden. Ich versuchte also irgendwas an mir zu retten, damit ich nicht total beschissen aussah. Meine Augen wirkten leer. Mein Gesicht fahl und eingesackt. Ich war so müde. Hatte ich mich schon immer so leer gefühlt? War mir schon früher so kalt gewesen? War meine Wohnung immer so leise?

Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich früher gefühlt hatte. Ich wusste gar nichts mehr. Je länger ich versuchte, meine Erinnerungen zusammenzuschaufeln, desto mehr entglitten sie mir. War ich schon immer allein? Wie hatte ich die letzten Jahre verbracht? Hatte ich einen Freund gehabt? Oder gab es wirklich nur mich und das Studium? Was hatte mich damals zum Lachen gebracht? War ich Glücklich gewesen? War ich denn jetzt glücklich?

Ich wusste es nicht.

Was hatte mich in der Reha angetrieben? Es war, als hätte ich mich besonders angestrengt, endlich wieder nach Hause zu kommen. Doch wofür? Ich würde niemals Arzt werden. Ich hatte niemanden, der zuhause auf mich wartete. Also was trieb mich an? Was ließ mich hoffen?

See You Again (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt