-Levin-
Ich wollte doch gar nicht so zu ihm sein. Ich hatte mich Nicolai gegenüber wie ein riesiges Arschloch verhalten, doch ich wusste einfach nicht wie ich mit diesen Informationen umgehen sollte. Je mehr Tage ohne eine Lösung verstrichen, desto verzweifelter wurde ich und in meinem inneren brodelten all die Dinge hoch, die ich mein Leben lang versteckt hatte. Ich musste mit Jenna über unsere Familie sprechen. Ich musste ihr so viel erzählen, bevor ich sterben konnte, doch ich war mental noch nicht bereit für dieses Gespräch. Ich wusste nicht einmal ob ich jemals bereit dafür sein würde.
Ich sollte erleichtert sein, dass Nicolai es nun wusste. Ich sollte mir Hoffnungen machen, dass wir gemeinsam eine Lösung fanden, doch es passierte genau das Gegenteil. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt. Noch mehr als zuvor. Ich fühlte mich auf Tritt und Schritt beobachtet und das machte mich unglaublich nervös.
"Schläfst du heute Nacht wieder bei mir?" murmelte er schüchtern, nachdem wir gegessen hatten. Ich hatte immer weniger Appetit auf das Essen vor mir, doch ich hatte mich dazu gezwungen alles aufzuessen. Es waren weitere Symptome hinzugekommen. Schlaflosigkeit, Übelkeit, Appetitlosigkeit und kurzweilige Luftnot. Das waren jedoch nur die physischen Beschwerden. Viel schlimmer waren jedoch die psychischen Anzeichen, von denen Nic nichts mitbekam. Panikattacken, Schuldgefühle, depressionsartige Wellen, die mein Bewusstsein durchfluteten. Gefühlsschwankungen. Besonders ausgeprägt waren Wut, Schuld und Angst. Wie all dies über mich hereinbrach ließ mich verzweifeln und ihn unbewusst von mir schubsen. Ein Teil von mir wollte sich an ihn kuscheln und beruhigt einschlafen, doch es ging nicht. Ich konnte es nicht logisch erklären. Meine Gedanken waren das pure Chaos. Es ging einfach nicht. Ich wollte mich in einem verschlossenen Tresor ins Meer werfen lassen und nie wieder an Land kommen. Ich wusste selbst, dass das keinen Sinn ergab. Nicolai wartete an Land auf mich, doch ein schwerer Klumpen wollte mich in das dunkle, kalte Meer ziehen und verschlingen.
Die erste Diagnose war erst vor wenigen Wochen gewesen und doch war ich innerhalb dieser kurzen Zeit so tief gesunken. Ich wollte all diese Gedanken nicht zulassen. Ich war so nicht. Ich war kein Schwächling der sich versteckte. Das war nicht mein wahres Ich. Doch momentan fühlte es sich so an, als wenn es nie einen anderen, besseren Teil in mir gegeben hätte. Ich wurde einfach verrückt.
Ironischerweise glitten meine Gedanken dabei zu Elizabeth und mir wurde allmählich klar, dass ich noch immer nicht mit ihr abgeschlossen hatte. Ich hatte mit nichts abgeschlossen. Es klang dumm, doch ich bereute es ein klein wenig, dass mein Verhältnis zu meinem Erzeuger so verkorkst war. Es war nicht alles meine Schuld gewesen, dass wir uns nicht nahe gestanden hatten, doch in mir kam die Frage auf, was sich zwischen uns entwickelt hätte, wenn ich auf ihn gehört und nicht gegen ihn rebelliert hätte. Wäre er stolz auf mich gewesen? Nur ein bisschen? Hätte er einen kleinen Funken Liebe für mich übrig gehabt, wenn ich der Sohn gewesen wäre, den er sich vorgestellt hatte? Ich würde niemals die Antwort darauf erfahren und das zernagte mich.
"Ich sollte lieber in meinem Zimmer bleiben." antwortete ich Nic betrübt und wünschte ihm mit einem knappen Kuss eine gute Nacht. Mir entging sein Trauriger Blick nicht im geringsten, doch er sollte nicht noch mehr von meinen Ängsten mitkriegen, als eh schon. Immer wieder wühlte ich mich im Bett hin und her. Ich driftete immer nur in einen widerlichen Halbschlaf ein, in dem sich Traum und Realität miteinander vermischten. Ich umklammerte mein Messer als wenn es mir Halt geben würde und konzentrierte mich auf das kühle Metall.
Ich schaffte das nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nicht mehr und ich wollte auch nicht mehr! Ich spürte den unangenehmen Kälte-schweiß an meinem Körper haften, während ich mich durch die Nacht quälte. Es war als wenn eine Formlose Gestalt mich verfolgte. Das pure Böse, welches mich mit Haut und Haaren verschlingen wollte. Schreiend und außer mir vor Panik sprang ich aus dem Bett, jederzeit bereit mit meinem Messer zuzustechen. Doch es war alles ruhig. Kein Feind in Sicht, nur Nicolai, der besorgt durch den Türspalt lugte und mich fragte, ob etwas passiert sei.
"Alles bestens." krächzte ich kein Stück überzeugend und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
"Du solltest wirklich zu Angela gehen. Bitte." sagte er und kam ganz vorsichtig auf mich zu, nahm mir in Zeitlupe das Messer ab, als befürchtete er, dass ich bei einer hektischen Bewegung die Klinge in seinen Hals rammen würde.
"Vielleicht hast du recht." wisperte ich erschöpft und wurde von ihm in eine Umarmung gezogen. "Es tut mir so weh, dich so zu sehen." Es war nur ein leises Flüstern, doch jedes einzelne Wort war wie eine Ohrfeige für mich. Genau aus diesem Grund wollte ich nicht, dass er davon erfuhr. Er machte sich Sorgen um mich und das wollte ich nicht, denn ich wusste das er darunter mehr litt, als ich selbst. Das klang idiotisch, doch es stimmte. Er litt mehr darunter, hilflos dabei zusehen zu müssen, wie sich mein Zustand verschlechterte, als wenn er sich selbst in meiner Situation befinden würde. Ich wollte das nicht.
Das Schicksal war ein Arschloch. Ich war ein Arschloch. Egal was ich auch tat, ich verletzte ihn nur. Seitdem wir uns kannten hatte ich ihn stets nur verletzt, ohne es beabsichtigt zu haben. Er war der einzige Mensch für dessen Glück ich freiwillig sterben würde. Er war die Person, die mein Herz besaß, doch alles was ich ihm zurück gab bestand nur aus Leid und Schmerz. Ich würde ihn niemals Glücklich machen können. Zumindest nicht, bis ich mein Leben selbst unter Kontrolle hatte, denn es war ein einziges Chaos.
Nicolai hatte nicht so eine halbherzige Beziehung verdient. Das bedeutete nicht, dass ich vor meinen Problemen davon laufen wollte, das würde ich nie wieder tun, doch ich brauchte womöglich etwas Zeit um mein Leben zu ordnen. Falls ich in der Zukunft noch ein Leben haben sollte.
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See You Again (Band 2)
RomanceNachdem Nicolai sich von seinen Verletzungen erholt hat und endlich aus dem Koma erwacht, muss Levin erschütternd feststellen, dass er vergessen wurde. Während Nicolai sein Leben, ohne dem Wissen, seinen Geliebten im Dunkeln stehen zu lassen, weite...