Kapitel 47.

568 53 1
                                    

-Nicolai-

Mein Herz raste während der gesamten Fahrt. Es war eine Sache bei jemandem im Wagen zu sein, doch selbst am Steuer zu sitzen war beängstigend. Zugegeben ich hatte es schon immer bevorzugt, zu Fuß unterwegs zu sein, doch es war auf Dauer unmöglich ohne Verkehrsmittel zurecht zu kommen. Es beruhigte mich ein wenig, dass Lev bei mir war. Ohne ihn wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen, selbst zu fahren. Ich konnte mich zwar nicht mehr an den Unfall selbst erinnern, doch die beschleichende Angst, dass etwas schlimmes passierte, sobald ich in einem Fahrzeug saß, kroch meinen Körper jedes Mal hinauf und schien mich zu lähmen. 

Als wir wieder bei Tristan waren, schien mein Körper am Sitz festgewachsen zu sein. Während der Fahrt hatte ich mich so verkrampft, dass es nun fast unmöglich war locker zu werden. Meine Beine wollten sich nicht aus dem Wagen heben und so blieb ich noch einen Moment sitzen. Es war nichts passiert, also brauchte ich keine Angst mehr haben. Das wusste ich zwar, doch das Adrenalin brach Stückweise aus meinem Körper und ließ mich erschöpft zurück. Ich konnte den  widerlichen kälte Schweiß im Nacken spüren und erkannte die Gänsehaut, die sich auf meinen Unterarmen ausgebreitet hatte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Lev bereits auf seiner Seite ausgestiegen und zu mir herum gekommen war. Die Tür neben mir öffnete sich und er sah mich auffordernd an. 

"Komm her." sagte er und reichte mir seine Hand, doch ich starrte nur auf meine Hände und versuchte tief durchzuatmen. 

"приди ко мне, мой маленький

Komm zu mir, mein Kleiner.

In einem angenehmen Ton drangen die Worte an mich heran, die er bewusst in meiner Muttersprache formuliert hatte. Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer, als er mich so nannte. Ich kletterte hinter dem Steuer hervor und schmiegte mich sofort wieder in seine Arme. Ich war einerseits stolz darauf, es bis nach Hause geschafft zu haben, doch der Erfolg hatte einen bitteren Beigeschmack. Es würde wohl doch noch eine Weile dauern, bis ich dazu bereit war, selber zu fahren. Bis dahin überließ ich es Lev, denn ich vertraute ihm. 

"Das sollte belohnt werden." säuselte er zufrieden und strich mir sanft über den Rücken. 

"Ich denke nicht, dass ich heute noch dafür zu gebrauchen bin." erwiderte ich ehrlich, denn ich war sowohl körperlich, als auch mental zu erschöpft für eine weitere Runde Bettsport. Überrascht sah er mich an und lachte dann leise. "Das habe ich nicht gemeint. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe noch andere Sachen drauf." witzelte er und zwinkerte mir frech zu. Er nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her  zum Eingang. Auf halben Wege drückte er mir einen Kuss auf den Handrücken und strich behutsam mit dem Daumen über meine Haut. Allein solch kleine Gesten ließen mich jeden Schmerz vergessen, den ich die letzten Monate verspürt hatte. Jegliche Einsamkeit wich aus meinem Leben und ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass ich ohne ihn unglaublich einsam gewesen war. Ich erinnerte mich vage an die ersten Wochen nach dem Unfall, doch ich würde die Leere in mir nie vergessen. Niemals. Die Kälte, die meinen Körper einnahm. Die Angst die mich jede Nacht beschlich. Der paranoide Gedanke, dass etwas fehlte. 

"Du wirst dich ein wenig selbst beschäftigen müssen, bis ich fertig bin."nuschelte Lev plötzlich und schob mich in Richtung Treppe. "Leg dich ruhig hin und ruh dich ein wenig aus. Ich rufe dich, wenn es soweit ist."Er wirkte gut gelaunt und drängte mich immer weiter ins Haus hinein, bis ich dazu gezwungen war, nach oben zu gehen. Mich überfiel wirklich das Gefühl der Müdigkeit. Ein wenig Schlaf wäre bestimmt nicht schlecht. Nur ein wenig Schlaf. Nur kurz die Augen zu und ...

Kaum hatte ich mich auf das Bett gelegt, fielen mir die Augen sofort zu und ich glitt von einem Traum in den nächsten. Immer tiefer fiel ich in mein Unterbewusstsein und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass mich jemand aufweckte. Unschöne Bilder blitzten vor meinem inneren Auge auf. Ich träumte von Vincent und Dexter. Ich träumte von den Männern, die mich bis vor kurzen noch verfolgt hatten, aber vor allem träumte ich von der jungen Frau, die ich umgebracht hatte. Ich hatte bis jetzt nicht zugelassen, daran zu denken, hatte es stets verdrängt, doch nun überrollte es mich wie ein Schnellzug und ich konnte nichts dagegen machen. Es ging alles so schnell. Ich fand mich in dem Penthouse wieder. Ich hörte wie der Fahrstuhl betätigt wurde und erinnerte mich daran, wie Sid mir verdeutlichte mich zu verstecken, falls der Fahrstuhl betätigt wurde ohne das er vorher angerufen und bescheid gegeben hatte. Ich hatte gehofft nie in diese Situation zu geraten, doch das Schicksal hatte es nicht gut mit mir gemeint. Ich erinnerte mich, wie ich nach einem Versteck suchte und konnte beobachten, wie eine junge Frau das Penthouse betrat. Sie rief nach mir. Sie sagte, sie sei die Putzfrau. Dann ging alles ganz schnell. Ich wusste nicht wie, doch Sid war ebenfalls nach oben gelangt und ging auf die Frau los, welche sich als eiskalte Auftragskillerin entpuppte. Während ich in dem Schrank saß und dabei zusehen musste, wie Jemand meinetwegen verletzt wurde, empfand ich ein Gefühl der Hilflosigkeit, welches ich noch nie erlebt hatte. Ich wollte ihm helfen. Ich wollte das dies alles endete. Und dann war es geschehen. Mein Körper hatte automatisch reagiert und nun spielte mir mein Gehirn immer und immer wieder vor, wie ich die schwere Vase ergriff und sie ihr mit aller Kraft über den Kopf zog. Verschwommen hatte ich die Explosionen im Erdgeschoss mitbekommen, denn ich konnte an nichts anderes denken, als an den leblosen Körper, der vor mir auf dem Boden lag. 

See You Again (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt