Kapitel 35

9 0 0
                                    

Ich atmete tief ein und aus. Zu gerne hätte ich die nächsten Seiten gelesen und erfahren wie es weitergehen würde. Ob Kyra überleben würde oder nicht. Ob es dem Rudel gelingen würde, alle zu retten. Doch mir war bewusst, wie wertvoll dieses Buch sein musste. Es war von einem Vorfahren der Spencer's geschrieben worden und ich wusste nicht was für Schaden es anrichten würde, sollte man sein Fehlen bemerken. Ich entschloss mich, es sofort zurückzubringen. Vielleicht konnte ich etwas darüber herausfinden, indem ich mit Kai sprach. Und vielleicht brachte ich ihn dann auch dazu, mir etwas zu erzählen was das Rätsel mit dem schwarzen Rudel erleichtern würde. Vorsichtiger als zuvor, schob ich das Buch zurück in die Jackentasche und machte mich auf den Rückweg. Der Schneefall hatte zugenommen und bedeckte meinen Kopf mit einer weißen Decke. Grübelnd schaute ich in den Himmel und dachte an die Begegnung in Grönland zurück. Wenn ich mich nicht recht irrte mussten Kai und der schwarze Wolf sich kennen. Vielleicht waren sie ja einmal Freude gewesen? Ich schüttelte meinen Kopf um einige der Fragen verschwinden zu lassen. Ich befürchtete nämlich, mein Kopf könnte jeden Augenblick explodieren. Aber eine Frage, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, blieb hängen und klammerte sich stark an mein Gedächtnis. Warum waren Die Anderen und das Weiße Rudel, eigentlich verfeindet? Man hatte uns immer nur von Kriegen erzählt, wie sie kämpften, wie wir kämpfen musste um sie zu besiegen, um sie auszurotten damit uns keine Gefahr mehr drohte. Aber man hatte uns nie einen Grund dafür genannt, warum sie das taten oder warum wir es taten. Diese Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum und ich bemerkte erst das ich am Haus angekommen war, als ich gegen eine Tür lief. Erschrocken hob ich den Kopf und starrte gegen das dunkle Material. Das war nicht das Haus der Spencer's.

Unsicher sah ich mich um und traute meinen Augen nicht. Ich war doch tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung und zu mir nach Hause gelaufen. Wütend über meinen fehlenden Orientierungssinn, stapfte ich die Einfahrt wieder hinunter und zurück auf den Gehweg. Warum zum Teufel, war ich denn hierhergelaufen? Und warum fühlte ich mich so verlassen, wenn ich zu dem sandfarbigen Haus zurückblickte. Die dunklen Dachziegel, die grässlich geblümten Gardinen und der bunte Mosaiktürknauf. Der Kiesweg sah so einladend aus und ich erinnerte mich daran, dass ich das hier vor kurzer Zeit noch als mein neues Zuhause angesehen hatte. Ich seufzte laut auf und drehte mich um. Schnurstracks lief ich auf das Rosenbeet unter dem Küchenfenster zu und ging davor in die Knie. Die kalt gefrorenen Randsteine hinterließen einen kleinen Stich in meinem Knien und ich wünschte mir, eine dicker Hose angezogen zu haben. Aber die nächste Möglichkeit mir diesen Wunsch zu erfüllen, lag mehrere Meter über mir und war versteckt hinter hässlichen Gardinen. Ich hob einen der hinteren Randsteine an und zog einen schichten, silbernen Schlüssel hervor. Langsam ging ich zur Tür und steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Wie gerne wäre ich jetzt einfach davongelaufen und hätte mich in dem gemütlichen Gästezimmer verkrochen. Doch das ging nicht. Ich wollte mich vergewissern das niemand mehr in diesem Haus wohnte. Und das konnte ich nur durch einen Blick in sein Inneres feststellen.

Nervös trat ich über die Türschwelle. Verlassen und einsam lag der geflieste Flur vor mir. Ich schloss kurz die Augen und horchte in die Stille hinein. Doch da war gar nichts. Kein Rascheln, kein dumpfes Poltern und kein Atem. Nur ich ganz alleine. Ich öffnete die Augen wieder und stieß erleichtert die Luft aus. Das beklemmende Gefühl, nicht alleine zu sein, verließ mich und ich machte langsam einige Schritte vorwärts. Die hellgelben verputzten Wände, ließen den Flur leuchten. Die breite Kommode stand, wie sonst auch, so sehr in den Flur hinein, dass es nicht möglich war mit einer anderen Person an der Seite daran vorbei zu laufen. Ich warf kurze Blicke in die Küche, das Wohnzimmer und das Gästebad, bevor ich die Treppe hinauflief. Oben sah alles genauso aus wie sonst. Eine lange, kahler Flur mit mehreren Türen. Das Badezimmer, Mamas Schlafzimmer und das kleine weitere Zimmer, das wir mit leeren Kartons vollgestellte hatten, fand ich ebenfalls verlassen vor. Nur die Tagesdecke und eine Nachttischlampe, wiesen darauf hin, dass hier vor kurzem jemand gewohnt hatte. Endgültig sicher, dass meine Mutter nicht mehr hier war, betrat ich mein kleines Reich. Oder viel mehr, mein altes kleines Reich. Schrank, Bett, Nacht- und Schreibtisch und Regale lagen genauso da, wie ich sie verlassen hatte. Eiligen Schrittes steuerte ich auf meinen Schrank zu. Ich öffnete ihn und zog einen roten Rucksack hervor. Dann riss ich einige Oberteile von den Kleiderbügeln und stopfte sie achtlos in den Rucksack. Hosen, Socken und Unterwäsche folgten und schlussendlich füllte ich einen Jutebeutel mit Schuhen. Ich nahm noch einige andere Kleinigkeiten mit, bevor ich die Tür hinter mir schloss. Die vier Taschen die ich gefüllt hatte, lehnte ich gegen die Wand und ging noch einmal in das Schlafzimmer meiner Mutter zurück. Ihr Zimmer war eines der schönsten im ganzen Haus und zuerst hatte ich es haben wollen. Doch leider hatte es mit meinen Möbeln schrecklich ausgesehen. Die hellblauen Wände, der graue Teppichboden und der kleine Erker mit dem runden Fenster. Ich ging darauf zu und setzte mich auf die kleine Bank. Von hier aus hatte man einen richtig schönen Ausblick. Auch wenn unser Garten ziemlich klein, im Gegensatz zu denen unserer Nachbarn war, stand her ein schöner kräftiger Kirschbaum der im Sommer sicherlich voller Blüten sein würde. Aber wir würden diesen Anblick wohl nie bekommen, denn ich wohnte jetzt bei den Spencer's und meine Mutter wieder in Grönland. Seufzend stand ich auf und wollte das Zimmer verlassen, doch mein Blick fiel auf den Kleiderschrank meiner Mutter. Er stand einen Spalt weit offen und ich konnte etwas dahinter schimmern sehen. Ich öffnete die hölzernen Türen und riss die Augen auf. Darin hing ein Dutzend Kleider. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Mutter je solche Kleider besitzen oder tragen würde. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie sie zurückgelassen hatte. Ich legte die Stirn in Falten und überlegte. Sollte ich sie hierlassen oder mitnehmen? Ich meine, man konnte ja nie wissen ob man nicht ml ein schönes Kleid brauchen würde. Ich entschied mich, sie mitzunehmen. Sonst würden sie ja für immer hier hängen bleiben. Ich besorgte mir zwei weitere Beutel und legte die Kleider, gefalten nicht so wie bei meinen anderen Klamotten, hinein. Dann belud ich mich mit den zwei Rucksäcken und den vier Jutebeuten und verließ das Haus. Allerdings durch den Garten. ich wollte auf keinen Fall das vorbeikommende Passanten mich für einen Dieb oder ähnliches hielten. Ich stieg über den Zaun, was mit den ganzen Taschen gar nicht so einfach war wie sonst, und machte mich auf den Rückweg. Hoffentlich konnte ich mich nun besser konzentrieren und fand auch sicher und unverletzt zurück.

Gefunden (Abgebrochen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt