Wir haben das trainiert. Die Begegnung mit den Bewohnern der unteren Decks. Begegnungen mit Leuten, die uns den Gewinn der Lotterie nicht gönnen. Aber das waren nur Simulationen. Und dieser Typ da ist erschreckend real. Schwarze Klamotten von Kopf bis Fuß. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Eine lauernde, breitschultrige Erscheinung mitten im Korridor. Die Zeit, als mein Leben noch ganz normal war und ich mir jeden Abend irgendwelche Crime-Serien reingezogen habe, liegen noch nicht weit genug zurück, als dass ich die unheilvolle Aufmachung eines Serienkillers vergessen hätte. Was haben wir in den Simulationen nur gelernt?
«Auf der Suche nach dem Treppenhaus, Jetta?», säuselt der Typ mit honigsüßer Stimme.
Ich versuche, das verschreckte Zucken meines Körpers zu verbergen, indem ich einen Schritt zur Seite weiche. Woher kennt er meinen Namen?
Er macht zwei Schritte auf mich zu und zeigt ein strahlendes, schiefes Lächeln, als hätte er dieses Spiel schon unzählige Male gespielt. Und gewonnen.
Eine Falle, schießt es mir durch den Kopf. Sie haben mir eine Falle gestellt. Bestimmt ist er ein Sekretär. Er wird mich verraten. Ich verliere! Und wenn er kein Sekretär ist? Nicht-Privilegierte sind bestechlich. Sie würden fast alles tun für ein paar lächerliche Punkte.
«Ich bin ...», antworte ich und muss mich räuspern, um meiner Stimme mehr Festigkeit zu verleihen, «Ich bin auf der Suche nach einem Freund.»
In einer Simulation wäre ich gnadenlos durchgefallen. Aber das ist die Realität, in der ich Zeit schinden muss, um auf einen klaren Gedanken zu kommen. Der Typ lächelt noch breiter.
«Ziemlich schlechte Performance für eine Anwärterin des Kidney-Stipendiums», urteilt er. «Meine privilegierten Zeiten liegen zwar schon etwas zurück, aber rät die Simulation nicht, sich in einen videoüberwachten Bereich zu begeben und das Codewort zur Rettung einer Vilex in die Kamera zu plärren?»
Ein Verstoßener? Verdammt nochmal, das kann doch alles nicht wahr sein! Normale Nicht-Privilegierte sind schon gefährlich genug. Schlimmer sind nur Verstoßene, die die Vorzüge des Lebens über dem Meeresspiegel kosten durften.
«Wenn du dich mit den Simulationen so gut auskennst, dann weißt du ja auch, dass es spezielle Kampftrainings gibt», drohe ich mit erhobenen Händen, die so gar nicht nach Kampftraining aussehen.
Mit einem Satz ist er bei mir, schnappt sich mein Handgelenk und dreht mir den Arm auf den Rücken. Mit seinem Körper nagelt er mich an der Wand fest. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand diesen Griff bei mir anwendet. Ich wappne mich gegen den Schmerz, der meine Schulter zerreißen wird. Aber er kommt nicht. Allein die Kälte der Metallwand piesackt meine Wange und steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der Körperwärme des Fremden in meinem Rücken. «Schade, dass die nur für die Wachdienstausbildung genutzt werden, oder?», wispert der Typ. Ich kann die Bewegung seiner Lippen an meinem Ohr spüren.
«Sag einfach, was du willst!», keife ich und versuche, die Frage zu verdrängen, die sich mir aufzwingt. Wieso tut er mir nicht weh?
Mit einem Ruck dreht er mich zu sich um, presst mich an den Schultern gegen die Wand. Seine Haare hängen ihm unter der Kapuze in die Stirn. Jetzt bin ich ihm nah genug, dass ich seine dunklen Augen sehen kann.
«Hör mir zu.»
«Was?» In seiner Überfall-Simulation hätte er auf jeden Fall auch versagt.
«Es gibt da etwas, dass du wissen solltest.»
Ich recke das Kinn nach vorn, was zugegeben nicht mein klügster Einfall ist. Aber solange diese Auseinandersetzung nicht körperlich wird, sollte ich mich nicht verkriechen.
«Und wieso sollte mich das interessieren?»
Eiseskälte jagt mir durch Mark und Bein, als seine Augen vor Wut funkeln. Keine Sekunde lässt er mich unbeobachtet. Keine Chance ihm einfach zu entwischen, ohne einen Nahkampf zu riskieren, den ich verlieren würde.
«Auch nicht, wenn es um deine Mutter geht?» Er zieht eine Augenbraue in die Höhe, als kennt er die Antwort bereits.
Niemand spricht über meine Mutter. Ein Sekretär nicht, weil es das Concilium verbietet. Meine Mitschüler nicht, weil sie nicht wissen, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen. Nicht einmal mein Vater verliert ein Wort über sie. Wer ist dieser Typ? Mein Schweigen bestätigt ihn offenbar in seiner Annahme.
«Deine Mutter war ein guter Mensch», erklärt er beschwörend und ohne meine Schultern loszulassen.
«Ich weiß», erwidere ich harsch. Meine Mutter war eine Heilige. Für alle anderen. Sie hat alles getan, um ihnen zu helfen. Sie hat ihnen eine neue Perspektive geschaffen. Sie hat die Lotterie entwickelt. Aber jetzt ist sie tot und niemand spricht mehr über sie und eigentlich war ich darüber ganz froh. Ich habe auf ihrer Beisetzung meinen Frieden mit ihr geschlossen. Sie hatte das Leben, das sie sich immer gewünscht hat. Sie war glücklich. Sie hätte für mich nichts anderes gewollt. Ich will nicht hören, was andere Leute über sie denken. Sie machen das Bild kaputt.
«Sie hat mein Leben gerettet», fügt er hinzu und verstärkt den Druck gegen meine Schultern.
Ich ziehe die Luft ein, während sich meine Zähne in die Innenseite meiner Wange graben. Meine Mutter hat unzähligen Menschen das Leben gerettet. Auf die eine oder andere Weise. Aber ich bin es leid, mir diese Geschichten anzuhören. Denn für mein Leben hat sie sich erstaunlich wenig interessiert.
«Ich habe keine Zeit für sowas», fahre ich ihn an. Wie aufs Stichwort vibriert das Armband. Noch fünf Minuten.
«Ich weiß. Aber ich will dir etwas zurückgeben.» Er löst eine Hand von mir. Unter seiner schwarzen Jacke holt er ein silbern schimmerndes Band hervor. Ich erkenne es sofort.
«Ihre Kette!» Ich reiße sie ihm aus der Hand.
Das Metall ist warm von seiner Haut. Ich habe sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Sie hat sie nie abgelegt. Für mich eines der wenigen Zeichen ihrer Liebe.
«Wo hast du das her?» Ich stoße ihn weg und mache mich los.
«Sie hat sie mir gegeben. Bei unserem letzten Termin.»
Termin? Meine Augenbrauen verdunkeln meine Sicht, während ich seine Gestalt erneut mustere. Mom hatte nur zwei Arten von Terminen. Unterredungen mit ihrem Abteilungsleiter, einem alten, dicklichen Mann mit dem Namen Hector Jackson, und ihre Treffen mit Nickolas Sullivan, als der noch privilegiert war.
Ich spüre, wie mein Mund sich öffnet und wieder schließt. Das ist absolut unmöglich!
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...