Folge 21.1

9 1 0
                                    

«Sie wollten, dass jemand betrügt», spreche ich meinen Verdacht aus. Ich trete neben Aiden. Er wirft einen kurzen Blick auf mich, der meinen kreuzt und für Sekundenbruchteile darin nach einer Erklärung forscht. «Die Lotterie war nie dazu gedacht, eine gehobene Klasse zu etablieren. Sie diente dazu, diejenigen zu finden, die das Leben ihrer eigenen Kinder aufs Spiel setzen würden, um ihre Zukunft zu sichern, stimmt's?»

Jacksons Grinsen wird bei jedem meiner Worte breiter.

«Sie hat immer gesagt, dass du dahinterkommen würdest», säuselt er. «Deine Mutter hat immer gewusst, dass das dein Ende sein wird.»

Er zieht seine Waffe und richtet sie auf meinen Kopf. Doch in meinem Gehirn rattern die Gedanken. Puzzleteile fügen sich wie von Zauberhand zusammen. Sie evakuieren Deck 12 bis 14, weil dort diejenigen wohnen, die betrogen haben. Sie wollen diese Leute nicht vor irgendetwas beschützen. Sie wollen sie wegschaffen. Weit weg.

«Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht eine neue Gesellschaft zu formieren. Eine bessere Welt zu erschaffen, damit keine Katastrophe uns in die Enge treiben kann. Diese feigen Hunde haben eine faire Lotterie manipuliert. Sie leben nur für sich selbst, für ihre eigenen Interessen. Sie würden keinen Finger krumm machen, um eine ganze Gesellschaft vor dem Untergang zu bewahren. Solche Leute können wir nicht gebrauchen. Deshalb werden wir sie exekutieren.» Jacksons Stimme vibriert vor Zorn. Er kommt näher. Doch je näher er kommt, umso deutlicher kann ich all das erkennen, was meine Mutter so an ihm gehasst hat. Seinen Ehrgeiz, seine Verbissenheit, seine Dominanz. «Aber genau wie deine Mutter wirst du das nicht einsehen, oder?»

Conrad rafft sich auf und schafft es, sich hinzusetzen. Er hebt seine Waffe und richtet sie auf Jackson. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, legen alle Sekretäre ihre Waffen auf Conrad an.

Ich greife nach Aidens Hand und verschränke seine Finger mit meinen. Wärme pulsiert durch meinen Arm. Dem Fettsack ist diese Geste offenbar Antwort genug.

«Schade. Jammerschade, dass du ihren Fehler wiederholst. Aber vielleicht tröstet es dich ja, durch die gleiche Hand zu sterben wie sie.» Seine Waffe ist stur zwischen meine Augen gerichtet. Aiden schiebt sich vor mich. Conrad richtet seine Waffe erneut aus.

«Diese feigen Hunde leben nur für sich selbst», schallt es mit einem Mal von der Kuppel herab. «Deshalb werden wir sie exekutieren.»

Die Köpfe aller Anwesenden heben sich zur Decke. Ein mächtiges Abbild von Hector Jackson überspannt das Glas.

«Diese feigen Hunde leben nur für sich selbst. Deshalb werden wir sie exekutieren», wiederholt die Videoaufnahme in ohrenbetäubender Lautstärke. Dann beginnt sie erneut. In Dauerschleife.

Ich bemerke das Aufblinken eines kleinen Symbols am unteren Bildrand, sobald die Szene von vorn anfängt. Es ist ein Kreis, in dessen Mitte in verschnörkelten Buchstaben die Initialen J und H stehen.

«Judith», hauche ich erleichtert. Mir ist absolut klar, dass dieses Video über jeden verfügbaren Bildschirm des ganzen Moduls flimmert. Jetzt in diesem Moment. Und jeder wird denken, dass er zu denen gehört, die Jackson umbringen will.

Ein Schuss fällt. Um mich herum wird es plötzlich still. Meine Hände krallen sich an Aiden fest. Doch sie sind weit weg. Und selbst er ist weit weg, als er sich über mich wirft und mich zu Boden reißt. Es wird dunkel. Jacksons Silhouette kauert am Boden und ich frage mich, ob es normal ist, dass ich mich angesichts meiner Lage frage, was mit ihm ist.

Aiden sagt etwas, aber seine Stimme ist nur ein Blubbern. Träge und hohl. Ich sehe in seine Augen, aus denen aller Scherz gewichen ist. Ich wünsche ihn zurück. Er sieht so viel älter aus, wenn Besorgnis seine Miene zerfurcht.

«Jetta!», blubbert er und rüttelt an meinen Schultern, bis ich verstehe, dass das mein Name ist. «Wir müssen hier weg!»

Als ich mich nicht rühre, stöhnt Aiden auf. Er schiebt seine Arme unter mich und plötzlich verliere ich den Kontakt zum Boden, den ich so dringend brauche, um nicht in mir selbst zu ertrinken. Ich werde von Aidens Schritten durchgeschüttelt. Er rennt auf den Hauptkorridor zu. Halbwegs bei Sinnen richte ich meinen Blick zurück und entdecke fünf Sekretäre, die uns auf den Fersen sind.

«Lass mich runter!», dränge ich und wehre mich gegen Aidens Griff, als er nicht sofort gehorcht.

«Was hast du vor?»

«Laufen. Was sonst?»

Ich renne neben ihm her, so gut es geht, und ignoriere den Schmerz in meinem Fußgelenk. Wenn ich Glück habe, oder wie man das auch immer nennen will, verdrängt in hundert Schritten der Überlebensinstinkt und damit die Taubheit die Schmerzen. Hundert Schritte. Ich zähle rückwärts, damit ich nicht an die Sekretäre denken kann, die ihre Waffen immer noch auf uns richten. Keine zehn Schritte später, werfe ich einen Blick zurück. Sie sind näher an uns dran, als jemals zuvor. Ich wende den Kopf wieder nach vorn und renne frontal in eine Wand aus Menschen.

Sie treiben mich zurück zum Platz. Aiden ist weiter vorn. Er kämpft sich zwischen den Körpern hindurch, kommt gut voran. Verdammt! Ich versuche, an ihm dran zu bleiben, aber gegen das drückende Gewicht hunderter Sekretäre, die vor Wut gar nicht auf mich achten, bin ich absolut machtlos. Ich falle zurück und die Menge verschluckt Aiden.

Ich pralle gegen einen der Sekretäre, der mich bis eben im Visier hatte. Er hat Mühe seine Waffe im Gedränge bei sich zu behalten. Doch als sein Blick hinter der Maske auf mich fällt, er mich ohne Zweifel identifiziert, besinnt er sich. Er reißt die Waffe hoch und trifft mich damit am Kinn.

Blind vor Schmerz taumle ich zurück. Er legt die Waffe an und zielt auf mich. Ich weiß nicht auf welche Stelle. Vielleicht tödlich, vielleicht nicht. Macht das einen Unterschied? Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. Im selben Moment springt jemand dem Sekretär in die Seite, reißt seine Waffe herum. Ein Schuss löst sich und die Menge pflügt auseinander. Schreie quietschen von überall.

«Lauf, Jetta!», brüllt Conrad durch den Lärm. Er ringt mit dem Sekretär. Mit der angeschossenen Schulter verschafft er mir nur Sekunden. Egal! Ich stürme los. Bis mich ein zweiter Schuss dazu zwingt, zurückzusehen. Aber Conrad ist nirgends zu sehen.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt