Folge 19

8 1 0
                                    

Die Gänge sind so eintönig, dass ich Mühe habe nicht die Orientierung zu verlieren. Aber ich vertraue Perry nicht genug, als dass ich mich ihr vollkommen ausliefern will. Irgendetwas liegt noch immer in der Luft. Wie ein Gewicht, das meine Schultern nach unten drückt.

Im Gegensatz zu mir scheint Perry fast unbeschwert. Aber ich hadere damit, es einfach nur auf die Hoffnung auf das langerwartete Wiedersehen mit ihrem Bruder oder eine Auseinandersetzung mit Bob Coleman zu schieben. Wie ein Äffchen springt sie durch die Flure, bremst sich, wenn ich nicht hinterherkomme, und stürmt sofort wieder los.

Früher, als meine Mutter noch lebte und wir an manchen Wochenenden lange Spaziergänge machten, rannte ich auch so herum. Sie hat mich immer ermahnt und mich darauf hingewiesen, dass ich den ganzen Weg doppelt und dreifach laufen würde. Aber genau wie mir damals, ist das Perry vollkommen egal und ich muss gestehen, dass ich etwas anderes erwartet habe.

Sie steht kurz davor ihren Bruder wiederzusehen. Sollte sie da nicht vor Anspannung platzen, unauffällig durch die Gänge schleichen und jede Bewegung vermeiden, die sie von ihrem Ziel fernhalten könnte? Zum anderen verzögert sie mit ihrem Umweg eine wirklich riskante und schwierige Mission und ich nehme ihr nicht ab, dass sie so plötzlich um meine Sicherheit besorgt ist.

Dieser Plan ist vollkommen bescheuert und ich werde das Gefühl nicht los, dass hier irgendwas gewaltig schief läuft! Wenn sie so weitermacht, sind wir noch Stunden unterwegs und mein Fuß fühlt sich jetzt schon wie ein Betonklotz an.

«Auf welchem Deck sind wir?», frage ich irgendwann und versuche mich an die letzte Markierung zu erinnern. Perry hat so verschlungene Wege eingeschlagen, dass es noch schwieriger ist, alles im Kopf zu behalten.

«Dreiundzwanzig», antwortet sie schroff.

Wow, damit sind wir schon mal auf dem Oberdeck.

«Was meinst du, wo der Zentralrechner steht?» Ich streiche über den Ärmel meiner Jacke, bis ich feststelle, dass es nicht mehr Aidens Jacke ist, die ich trage. Kein Sommerregen. Dafür muffiger Rucksackgeruch.

«Irgendwo hier, würde ich sagen», keift Perry.

Ich muss an mich halten, um nicht wie angewurzelt stehen zu bleiben. Da überwinde ich alles, was es in mir zu überwinden gibt und bitte ausgerechnet sie um Hilfe und dann weiß sie nicht, wo sich dieser dämliche Rechner befindet? Aber sie soll keinen Verdacht schöpfen. Also laufe ich ihr brav hinterher und überprüfe jeden Gang zweimal.

Nach einer halben Stunde erreichen wir einen breiten Hauptkorridor, der direkt zu einem von einer Kuppel überspannten Platz führt.

Ich zwinge mich, einfach weiterzugehen, obwohl mein Instinkt nun endgültig alle Alarmglocken schrillen lässt. Wir sind auf dem Oberdeck. Das war nicht gelogen. Aber ich kenne diese Kuppel. Ich weiß, dass hier immer Unmengen von Sekretären aller Abteilungen unterwegs sind. Aber es gibt hier keine Sekretäre. Es ist ein Hauptgang und keine Menschenseele ist in Sicht. Das ist nicht normal!

Ich zwinge mich, weiterzugehen und Perry nicht spüren zu lassen, dass ich ihr nicht traue. Zuerst muss ich das Spiel durchschauen.

«Quer über den Platz und dann den nächsten Gang links. Damit kommen wir im IT-Zentrum raus», trällert meine Verbündete.

Wir könnten seit Stunden dort sein, wenn sie uns gleich auf den richtigen Weg gebracht hätte!

Verdammt nochmal! Perry ist seine Schwester. Sie würde nichts tun, was ihren Bruder gefährdet, den sie fälschlicherweise am Zentralrechner vermutet. Gegen mich dagegen empfindet sie seit der ersten Stunde eine Abneigung, die sich vor allem auf meine Stellung im System gründet. Ich gehöre zu den Vilex. Sie nicht. Ich hatte eine Mutter, die sich kümmerte. Sie hat nur noch ihren Bruder. Ich habe das Leben, das sie will. Ich werde langsamer und beobachte, wie auch ihre Schritte kleiner werden.

Wir stehen mitten auf dem Platz. Ich hätte mir wirklich ein besseres Plätzchen suchen können. Aber die Erkenntnis zwingt mich zum Stillstand. Ich werde ihr keinen weiteren Schritt folgen.

«Was ist?», mault Perry. Zu laut, um zu verbergen, dass sie sich auf diesem Boden viel zu sicher fühlt, um nur eine Spionin in meinem Auftrag zu sein.

«Wir sollten zurückgehen», sage ich, einfach um irgendetwas zu sagen. Wieso habe ich keinen Plan? Denk dir was aus!

«Der Zentralrechner liegt aber in der anderen Richtung», knurrt Perry und kommt auf mich zu. Ihr Blick zuckt hinüber zu den Türen, hinter deren weißer Fassade Flure vermutlich voll von bewaffneten Sekretären sind.

Ich verschränke die Arme und bleibe eisern, als sie meinen Ärmel packt und mich fortziehen will. Hier ist also nicht der Ort, an dem was auch immer mit mir geschehen soll.

«Glaubst du, sie nehmen dich zurück, wenn du mich erst mal ausgeliefert hast?», reiße ich mich aus ihrem Griff.

Ihre Augen weiten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Beinahe gleichzeitig zerschneidet das Zischen einer Verriegelung die Luft. Links von uns öffnet sich eine Tür. Entgegen meiner Erwartung erscheint dahinter nur ein einziger Sekretär in weißer Uniform und ohne Schutzmaske. An seinem Gürtel baumelt ein Schlagstock, bei dessen bloßem Anblick das Blut in meinen Adern gefriert. An der anderen Seite ist eine Schusswaffe befestigt.

Ich sehe auf und blicke direkt in blaue Augen. Mein Puls verdreifacht sich, obwohl ich eine leise Ahnung hatte, dass es so kommen würde. Alles bis auf den gequälten Ausdruck in Conrads Gesicht habe ich kommen sehen. Nur wusste ich es bis eben nicht.

«Perry», grüßt er seine Verbündete, oder was auch immer sie für ihn ist, mit einem Kopfnicken. Sie nickt zurück und tritt einen Schritt zur Seite. «Jetta.» Er sagt meinen Namen mit einem Seufzen.

«Conrad», entgegne ich hart und beiße die Zähne zusammen. Noch nie habe ich seinen Namen auf diese Weise ausgesprochen.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt