«Wieso wolltest du die Jacke anlassen?», fragt er mit Nachdruck.
«Weil sie gut riecht, verdammt!» Stechender Schmerz schießt in mein Fußgelenk, als ich aufstampfe. Was soll das denn? Woher kommt das? Aidens Miene entspannt sich einen Augenaufschlag lang. Dann zerfurchen wieder die Zweifel seine Stirn. «Sie erinnert mich an dich. Deshalb wollte ich sie anlassen», gestehe ich und komme mir unendlich klein vor. Ich weiß, dass wir irgendwann mal über das sprechen sollten, was das zwischen uns ist. Aber doch nicht so. «Wieso vertraust du mir nicht? Seit wann?»
«Seit ihr bei Judith wart», antwortet er sofort. Mit roher Gewalt reißt er das Gitter eines Lüftungsschachtes von der Wand hinter der Spüle.
«Was hat sie damit zu tun?»
Aiden stößt ein Lachen aus. Er wirft die Jacke so tief in den Schlund, dass sie mit leisem Geklapper abwärts durch die Rohre rutscht.
«Judiths Vater arbeitet für Coleman. Und deine Freundin würde alles tun, um ihren Daddy glücklich zu machen.»
Der spinnt doch!
«Judith würde mich nie ...»
«So hintergehen? Und Conrad? Und dein Vater?»
Ich schnappe nach Luft. Das meint er nicht ernst! Das kann nicht die Wahrheit sein. Nein. Er muss sich irren. Er muss!
«Hat sie dich angefasst?»
Ich mache das finsterste Gesicht, das ich kann und denke nach.
«Ja, verdammt!», stöhne ich auf, als mir unsere Verabschiedung einfällt. «Aber das heißt noch lange nicht ...»
«Aber sie könnte», beendet Aiden meinen Satz und zuckt die Schultern.
«Und was bringt uns das?» Ich verschränke die Arme, um das kalte Gefühl in meinem Magen zurückzudrängen.
Wer hat mich angefasst? Judith. Perry im Aufzug. Sekretäre. Mein Vater. Conrad. Aiden. Joe. Wer würde mich finden wollen? Jeder, der für das Concilium arbeitet, der sich ein paar beschissene Punkte dazuverdienen will. Ich lasse die letzten Stunden Revue passieren, versuche mich an jedes Detail zu erinnern, und komme doch auf keine Lösung. Aiden und ich gegen den Rest dieser Kolonie. Das ist doch der Stand der Dinge.
«Sie wollen uns trennen!», packt mich die Erkenntnis. «Sie wollen, dass wir uns streiten. Sie wollen, dass ich wütend auf dich bin und dich verrate.»
Aiden schnauft ein letztes Mal, bevor er ernsthaft über meine Worte nachdenkt. Er legt zwei Finger an die Nasenwurzel und beginnt vor mir auf uns ab zu tigern.
«Deshalb haben sie auch den Mord auf deine Liste gesetzt. Sie wollen mich mürbe machen und mein Misstrauen ...»
«Welchen Mord?» Aiden bleibt direkt vor mir stehen und starrt mich an.
«In dem Video hast du einen Mord an einer Sekretärin gestanden», erkläre ich kurz und will schon fortfahren, als ich bemerke, dass jede Farbe aus Aidens Gesicht weicht.
«Du glaubst das doch nicht etwa, oder?» Sein ernster Blick jagt mir Schauer über den Rücken.
«Natürlich nicht. Ich meine, es war ja gefälscht.» Oder glaube ich es doch? Aufmerksam beobachte ich jede Regung in seinem Gesicht. Aber Aiden nickt nur verkniffen und setzt seinen Weg fort.
«Also, was wissen wir? Jemand versucht uns zu finden. Nicht unbedingt neu.», fasst er zusammen.
«Sie wollen dich lebend», setze ich hinzu.
«Jemand hat uns verraten.» Aiden zuckt die Schultern und marschiert weiter.
«Kannst du mal damit aufhören? Das macht mich wahnsinnig.» Ich halte ihn am Ärmel fest, als er das nächste Mal an mir vorübergeht. Er verschränkt die Arme und schaukelt jetzt hin und her. Ich werde noch seekrank, wenn er so weitermacht. Vielleicht bin ich es schon. Wenn ich an all das denke, was wir herausgefunden haben. Und daran, was wir noch nicht wissen.
«Was?», fragt Aiden und fängt meinen Blick auf. «Was hast du gerade gedacht?»
«Ähm, dass ich seekrank werde», sage ich, ohne darüber nachzudenken. Aiden starrt mich weiter an und wartet, dass ich weiterspreche. «Und ich musste an die Evakuierung denken und daran, was mein Vater gesagt hat.»
Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. Mit wedelnder Hand macht er mir klar, dass ich weiterreden soll. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, ihm davon zu erzählen.
«Als Judith für mich Helion ausgetrickst hat, war ich an ihrem Computer», erkläre ich. «In der Datenbank gab es einen Entwurf für die Evakuierung der Vilex-Decks. Und mein Vater hat gemeint, dass die Frage nicht wäre, wie viel er für unseren Platz bezahlt hat, sondern womit.» Ich schnappe nach Luft, um mit meinen sich überschlagenden Gedanken Schritt zu halten. «Und es scheint überhaupt keinen Zusammenhang zu geben, aber wir übersehen irgendwas. Vielleicht geht es nicht einfach nur um die Lotterie. Vielleicht war das nur die Spitze des Eisbergs.»
«Worum geht es dann?»
«Sag du es mir», schüttle ich den Kopf und lasse mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Ich rutsche daran herunter, bis ich auf dem Boden sitze und ein Knie anziehe. Ich schaue hinauf zu der einsamen Leuchtstoffröhre, die von der Decke baumelt. «Wieso haben sie ihre Strategie geändert? Wann haben sie beschlossen, dass du ihnen lebend lieber bist als tot?»
«Seit wir das zusammen machen.» Ich beobachte, wie er sich neben mich setzt und ebenfalls einen Blick nach oben wirft. «Ehrlich der lächerliche Mordversuch mit der Plattform, war doch mal gar nichts. Sie hatten unendlich viele Gelegenheiten uns beide einfach umzulegen. Sie wollen uns an einem Stück.»
Ich nicke gedankenverloren. Wir stellen nur fest. Das bringt uns nicht weiter.
«Welche Leute wohnen auf Deck 12 bis 14?», frage ich dazwischen.
«Keine Ahnung. Hauptsächlich Familien.» Aiden zieht die Stirn kraus. «Was hat das damit zu tun?»
«Der Evakuierungsplan war für diese Decks. Ich versuche das alles irgendwie zusammenzusetzen.» Ich drehe mich ihm zu und beobachte seine Augen, als sein Blick auf mir liegt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine derartige Ruhe empfunden habe. «Sie wollen uns beide. Lebend. Sie wollen die Decks evakuieren, auf denen sämtliche Vilex-Familien leben. Erkläre mich für verrückt, aber ich denke, bei der ganzen Sache geht es um die Kinder.»
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...