Wie aufs Stichwort betritt Mason die Kantine und schlendert hinüber zu der Anzeigetafel, die den gesamten oberen Bereich einer Kantinenwand einnimmt. Neben wichtigen Mitteilungen an die Schülerschaft, dem aktuellen Speiseplan und Terminankündigungen erscheinen dort ab heute die Ergebnisse unserer Tests und ein Ranking. Danach kommt nur noch die Abschlussprüfung. Der beste Schüler und die beste Schülerin erhalten das Kidney-Stipendium als höchste Anerkennung des Conciliums und Garantie für weitere Privilegien.
Ich lasse den Blick über meine Mitschüler schweifen. Alle Augen sind auf Mason gerichtet. Selbst die Frauen hinter der Ausgabe schielen zum Bildschirm. Nur Perry verschwindet im Vorbereitungsraum.
«Ich bin gleich zurück», sage ich zu Judith, ohne sie anzusehen. Bevor sie antworten kann, dränge ich mich schon durch das Getümmel.
Ich ignoriere das entnervte Stöhnen der Mitschüler, denen ich die Sicht versperre, und schlängle mich zum Ausgang der Kantine durch. Am Ende der Essensausgabe führt eine Tür in den Nebenraum, in dem sämtliche Speisen vorbereitet werden. Was früher eine Küche hätte sein sollen, ist heute ein Raum, in dem gezüchtetes Essen aus Containern in Ausgabeschalen umgefüllt wird.
Perry tut so, als wäre sie darauf konzentriert die Theke zu reinigen. Ich gehe auf sie zu und frage mich im selben Moment, was ich eigentlich sagen will. Hallo, wie gehts? Ich habe deinen Bruder getroffen und brauche jetzt die Gewinnmitteilung, die du immer bei dir trägst?
«Kannst du die Spannung nicht ertragen, weil dein Name nicht an erster Stelle stehen könnte?» Perry bedenkt mich mit einem Seitenblick. Ihre Augen sind genauso dunkel wie die ihres Bruders.
«Kannst du die Gewissheit nicht ertragen, dass Nick überhaupt nicht auf der Tafel erscheint?» Giftig kann ich auch.
Sie klatscht den Lappen in das Spülbecken und stemmt die Hand in die Seite.
«Was willst du?»
Sie ist ein paar Zentimeter größer als ich. Und da ich keine weiße Kleidung trage, gibt es nichts, wodurch ich mich über sie gestellt fühlen würde. Wir sind auf einer Ebene. Verstoßene. Jeder auf seine Art.
«Ich muss dir etwas sagen», meine ich ruhiger.
«Es interessiert mich einen Scheiß, was du zu sagen hast.»
Über meine Lippen kommt ein Stöhnen. Ich hab keine Nerven für diesen Kindergarten.
«Ich weiß, dass es nur ein Thema gibt, das dich wirklich interessiert.» Ich schiele hinauf zu der Kamera, die auf die Arbeitsfläche und damit auf uns gerichtet ist. «Und genau darüber muss ich mit dir sprechen.»
Perry mustert mich von Kopf bis Fuß und verdreht dann ihre hübschen Augen. Sie wendet sich einer Tresortür am hinteren Ende des Raumes zu. Mit geübten Griffen öffnet sie den Zugang. Sie lässt mir den Vortritt und mir wird schlecht bei der Vorstellung, dass sie mich auch einfach in der Kühlkammer einsperren könnte.
«Keine Kameras.» Sie deutet auf die Ecken des Raumes. «Sie haben Wärmesensoren, also werden sie wissen, dass wir hier drin waren.»
Ich überfliege erneut den Raum. Ohne Kameras können sie uns auch nicht abhören. Vermutlich.
«Perry, ich ...»
Wo soll ich anfangen? Ich kann doch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Mom würde mich ermahnen. Eine Entschuldigung wäre angebracht. Immerhin sind Teile meiner Familie daran Schuld, dass Perry jetzt hinter der Ausgabe steht und nicht mit ihren Freundinnen davor in der Schlange.
«Du hast ihn gesehen, oder?», sagt Perry leise.
Ich nicke.
«Geht es ihm gut?» Sie verschränkt die Arme. Ihre Finger krallen sich in ihre Uniform, bis sie weiß sind.
«Ich denke schon, ja.» Besser als mir jedenfalls.
«Er ist in Schwierigkeiten», stellt sie fest.
Ich nicke erneut. Sie ist wirklich gut darin. Hatte sie Extrastunden bei Mason? Ich weiß, dass er auch ihr Mentor war. Aber sie ist zwei Jahre jünger als ich. Die Tricks lernt man erst im Abschlussjahr.
«Du kennst die Wahrheit, oder? Du weißt, dass sie ihn jagen?»
«Natürlich, weiß ich das», faucht sie, zügelt sich aber sofort.
«Dann weißt du auch, welche Informationen er hat?»
«Nein», keift sie zickig. «Er hat mir nur gesagt, dass er etwas entdeckt hat. Was das ist, wollte er nicht sagen. Angeblich ist es zu gefährlich.» Sie stößt ein Schnauben aus, das mir unmissverständlich zeigt, was sie davon hält, wenn jemand sie für zu klein, zu jung oder was auch immer hält.
Aber wenn Aiden nicht will, dass seine Schwester von der Manipulation erfährt, werde ich mich hüten, es ihr zu sagen. Der macht es mir aber auch nicht leicht.
«Er braucht deine Hilfe.»
«Ach was?» Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe. «Und wie soll ich ihm helfen?»
«Die Gewinnmitteilung. Er sagte, du hast sie immer dabei.»
Perry zieht die Augenbrauen noch höher. Sie mustert mich erneut vom Scheitel bis zur Sohle, betrachtet die Jacke ihres Bruders eine Spur zu lang.
«Wozu braucht er die?»
«Ich ...» Lass dir was einfallen! «Ich weiß es nicht», spiele ich die Ahnungslose.
Sie sieht mir meine Lüge an der Nasenspitze an. Ihre zusammengekniffenen Augen weichen nicht von mir. Ich halte ihrem Blick stand, muss nicht einmal blinzeln. Ihr Nasenflügel zuckt, dann fährt ihre Hand in den Schlitz zwischen zwei Knöpfen ihrer Uniform. Als sie sie wieder herauszieht, kommt ein blaues Papier zum Vorschein. Es ist verknickt und an den Ecken ausgefranst.
«Er soll sie mir wiederbringen.»
Perry drückt mir das Papier an die Brust. Dann stößt sie die Tür auf. Ich hechte ihr hinterher. Aber draußen richten sich nur drei Augenpaare auf mich, als wäre ich das Ungeheuer von Loch Ness. Ich stecke das Papier in die Tasche von Aidens Jacke und stolziere aus der Küche. Ich bin privilegiert, rufe ich mir in Erinnerung. Es gibt keinen Ort, an dem ich nicht sein darf.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...