«Lass sie los, Perry», fordert Conrad erneut und richtet seine Waffe aus.
Er kann sie nicht erschießen. Sie verwendet mich als menschlichen Schutzschild. Er würde uns beide treffen, egal wie gut er zielen kann.
«Immer noch der große Beschützer?» Ich kann das hämische Grinsen in ihrer Stimme hören. «Glaubst du denn wirklich, dass er sich an eure Abmachung hält?» Sie nickt zu Coleman, der erstaunlich angespannt die Situation beobachtet.
Conrad knurrt leise. Ein Laut, den ich nie zuvor von ihm gehört habe und der mir eine Gänsehaut bereitet. Was ist mit dem Conrad passiert, den ich kannte?
«Meine Abmachungen gehen dich nichts an.» Er kommt einen Schritt näher. Doch Perry zerrt mich sofort zurück. Ich kann hören, wie sich ihr Finger auf den Abzug legt. Alles Rauschen verschwindet aus meinen Ohren. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie Conrads Augen zwischen mir und ihr hin und her springen. Ich sehe Coleman und Judiths Vater, deren fieberhafte Blicke auf Conrad liegen. Ihnen steht der Schweiß auf der Stirn.
Mir wird klar, was der Unterschied ist. Coleman braucht mich lebend. Wofür auch immer. Und mich zwischen Leben und Tod zu entscheiden, fällt mir leicht.
Ich beiße mir auf die Lippe. Perry hält mich zu fest im Griff, als dass ich mich befreien könnte. Es war ein Fehler sie zu unterschätzen.
In Gedanken gehe ich zurück zu meiner Befreiung. Aiden hat sie beauftragt. Wieso sollte sie ihm damals uneigennützig geholfen haben, wenn sie ihn jetzt so hintergeht? Sie weiß doch, wie viel ihr Bruder für mich und ich für ihn bedeute. Was ist damals für sie rausgesprungen?
Mir fällt ein, dass sie unbedingt mit auf Deck 0 wollte. Ich dachte, um ihren Bruder zu sehen. Aber vielleicht war es das nicht allein. Sie hätte gewusst, wo wir uns aufhalten. Deshalb musste sie sichergehen, dass Aiden nicht verhaftet wurde. Aber warum sind wir ausgerechnet zu Judith gegangen? Was hat sie damit zutun? Auf welcher Seite steht sie?
Ich schmecke Blut, weil ich zu fest zugebissen habe. Die immer neuen Fragen lassen den Boden unter meinen Füßen schwanken.
«Was hast du mit mir vor?», knirsche ich in Perrys Richtung. Mir fällt das Sprechen schwer, solange sämtliche Waffen im Raum auf uns gerichtet sind. «Wenn du mich umbringen willst, kannst du es auch sofort tun.»
Perry lacht auf.
«Und Coleman die Gewissheit überlassen, dass er den letzten Wunsch seiner Geliebten nicht erfüllen konnte?» Wieder lacht sie. «Nein, nein. Er soll an seiner Hoffnung ersticken.»
«Geliebte?» Meine Augen zucken zu Coleman, der mit fester Hand Judiths Vater am Eingreifen hindert. Sein Blick begegnet meinem, aber ich erstarre nicht, wie ich es erwartet habe. Er ist besorgt.
«Ach, komm. Hast du ernsthaft geglaubt deine Mutter würde deinem Vater seinen Verrat verzeihen?»
Meine Mutter und Coleman? Die Vorstellung ist derart absurd, dass ich lachen möchte. Andererseits kommt es mir vor, als hätte ich meine Mom überhaupt nicht gekannt.
Es war kein Unfall. Was war es dann? Ein Hinterhalt? Mord? War es Aiden, der sie umgebracht hat? Ich wünschte, ich würde endlich aus diesem Alptraum aufwachen.
«Deine Mutter war eine Heuchlerin», zischt Perry in mein Ohr, aber die Worte erreichen mich nicht.
Das Bild meiner Mutter bleibt stabil. Seit Aiden mir erzählt hat, dass er auf ihrer Beisetzung war. Sie hatte ihre Fehler, ihre Macken, einen Antrieb, der zu richtigen und falschen Entscheidungen geführt hat. Aber sie hat ihr Möglichstes getan. Sie hat Aiden gerettet. Sie hat mich gerettet und sie wollte für niemanden etwas Schlechtes.
Trotzdem habe ich Perrys Worten nichts entgegenzusetzen. Ich stecke noch immer fest. Conrad wird mich nicht befreien können, weil er Angst hat, mir wehzutun. Coleman wird nicht eingreifen, solange er die Lage als zu gefährlich einschätzt. Und Perry wird mich nicht gehen lassen, solange Coleman nicht aufgibt. Verdammt nochmal!
Ich hebe den Blick zum Kuppeldach, das die Köpfe aller Anwesenden überspannt. In der glatten Oberfläche der Milchglasscheiben spiegeln sich matt unsere Abbilder und bestätigen nur erneut, dass es keinen Ausweg gibt. Alle Ausgänge blockiert. Zwölf Sekretäre, von denen ich nicht weiß, auf wessen Seite sie stehen.
Ich will mich gerade abwenden, als ich eine Bewegung im Hauptgang bemerke. Eine Gestalt hält sich in einem Winkel hinter der Wand versteckt. Ich bin die Einzige, die sie sehen kann. Sie trägt kein weiß. Sondern schwarz.
Mein Herz setzt zwei Schläge aus und verdreifacht dann seinen Rhythmus. Mein Atem will schneller gehen, aber ich rufe mich zur Vernunft. Lass dir nichts anmerken, Jetta! Ich wende den Blick zu Coleman, der mich angespannt anstarrt.
Die Ecke einer Kapuze wird hinter Coleman sichtbar. Dann wird er zurückgerissen. Er verliert seine Waffe an den Überraschungsgast, der ihm mit dem Knauf einen Schlag gegen das Kinn verpasst. Coleman taumelt zurück, kann sich nur dank Judiths Vater auf den Beinen halten. Aidens Kapuze rutscht ihm vom Kopf, als er auf den Platz stürmt. Er feuert zwei Mal in die Luft, aber die Sekretäre zucken nur kurz. Keiner greift ein. Dann richtet Aiden die Waffe auf Conrad und drückt ab.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Bilim KurguDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...