Folge 9

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Der Computer rattert irgendwelche Zeilen ab, von denen ich mal wieder keine Ahnung habe. Judith nutzt die Wartezeit, um sich in der Küche nach etwas Essbarem umzusehen. Sie hat gerade die Zimmertür zugezogen, als «Mission completed» auf dem Bildschirm aufblinkt. Das ging wohl schneller als gedacht.

Das Fenster schließt sich automatisch und gibt den Blick auf das dahinterliegende Datenbankformular frei. Ich zögere. Aber wenn meine Recherche nicht der Auslöser für Helion war, wird es hier wohl nicht anders sein.

Ich setzte mich auf den Drehstuhl und tippe meine Suchbegriffe ein. Irgendwo müssen sie doch die Mitteilungen gespeichert haben. Irgendwo. Und wenn es nur ein Hinweis wäre. Irgendetwas, dass mir hilft herauszufinden, was meine Mutter wusste und warum sie sich auch nach seinem Downgrade noch mit Aiden getroffen hat.

Aber auch nach sieben Seiten Datenbankmüll gibt es keine Spur. Und nach und nach wird die Relevanz der Ergebnisse zu gering. Ich will gerade die Abfrage schließen, als mein Blick an einem Entwurf hängen bleibt. Ich überfliege die Vorschau, denn das Risiko, das Dokument zu öffnen, erscheint mir zu groß.

Tatsächlich ist es ein Mitteilungsentwurf. Sehr geehrte Vilex. Bla bla. Sofortiger Handlungsbedarf. Maroder Zustand. Bla bla. Zwei Wochen Zeit. Als Anhang hat die Mitteilung eine Bilddatei, die mit «Evakuierung-Deck-12-14» bezeichnet ist. Ich schlucke. Sie wollen also Teile der Vilex-Decks evakuieren? Mein Deck? Der Zeitstempel zeigt, dass der Entwurf erst vor zwei Stunden gespeichert wurde. Und er wird derzeit bearbeitet.

Ich schließe das Fenster und hoffe, dass Judith keine eigene kleine Version von Helion für aufdringliche Freundinnen installiert hat. Es knistert in meiner Jackentasche, als ich aufstehe und zur Tür gehe.

«Ich muss jetzt los», rufe ich durch das Apartment.

Statt meiner Freundin reckt deren Vater den Kopf aus der Küche.

«Bis bald, Henrietta. Grüß deinen Vater von mir.»

Ich nicke und ziehe die Tür ins Schloss.

Nahezu lautlos bewege ich mich durch den Korridor. Meine Wohnung öffnet sich wie immer mit einem Zischen. Sie ist mir nicht einmal in den ersten Tagen nach meinem Einzug derart unheimlich vorgekommen. Es ist still. Das ist mir lang nicht mehr aufgefallen.

Ich stopfe Klamotten in meinen Rucksack, von dem ich der Meinung war, ich würde ihn hier auf Modul 7 niemals gebrauchen können. Falsch gedacht! Unter meinem Bett hole ich den Schuhkarton hervor und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was Aiden wohl glaubt, was da drin ist? Sicherlich nicht Fotoalben und erinnerungsbehafteter Plunder.

Achtlos schmeiße ich den Deckel beiseite und krame das Album hervor, das ich für meine Mom zu ihrem Geburtstag gemacht habe. Sie hat es geliebt, Fotos zu machen, aber nie die Geduld gehabt, sie auch einzukleben. Deshalb habe ich das übernommen. In dem Buch finden sich Fotos seit meiner Geburt, Fotos von Dad und mir, von unseren Urlauben, den Schulfesten, Fotos von Mom bei Charity-Veranstaltungen und von ihrem Lächeln, dass mir stets sagte, dass alles gut wird. Ich stecke das Album zwischen die Kleidungsstücke, aber es ist zu breit für den Rucksack. Heute geht eben alles schief! Ich schlage die letzte Seite auf und reiße das Foto heraus. Es zeigt Mom, Dad und mich an Weihnachten vor unserem Tannenbaum im Wohnzimmer. Das letzte Foto mit meiner Mutter. Für immer. Ich schlucke und stecke es in den Rucksack. In einem Bilderrahmen entdecke ich eine Fotographie von Conrad und mir. Den packe ich auch ein. Das reicht an Sentimentalität.

Ich spähe nach draußen auf den Korridor.

«So ein Mist», flucht meine Nachbarin und hackt auf dem Tastenfeld neben ihrer Tür herum. «Oh, guten Tag, Miss Palmer», winkt sie, als sie mich entdeckt, «Könnten Sie so freundlich sein?»

«Natürlich, Mrs Jenkins», ringe ich mir ein Lächeln ab.

Die alte Dame vergisst immer ihren Zugangscode. Ich ziehe die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht und beuge mich möglichst nah zur Wand. Dann tippe ich den Code ein und die Tür springt auf.

«Vielen Dank, Miss Palmer. Was würde ich nur ohne Sie machen?», lacht Mrs Jenkins. «Warum verstecken Sie denn ihr hübsches Gesicht?»

«Ach, wissen Sie», suche ich nach einer Ausrede, «das trägt man heute so. Ist total modern.»

«Und das Tragen von Herrenkleidung auch?» Auf ihren Lippen zeigt sich ein wissendes Lächeln. Dann schiebt sie die Tür beiseite und tritt in ihre Wohnung.

Ich lächle zurück, obwohl mir nicht danach ist.

«Gott segne Sie, mein Kind», fügt Mrs Jenkins noch hinzu.

Ich wusste noch nie, was ich darauf antworten soll. Aber ein bisschen Segen habe ich wohl nötig.

Statt direkt wieder in Richtung Deck 1 zu marschieren, laufe ich noch zwei Gänge weiter. Im hinteren Teil des Decks, auf einer Ecke des Moduls, klopfe ich an die Tür eines Einzelapartments.

«Wer da?», fragt eine blecherne Stimme über die Anlage.

«Ich bin's.»

Das Zischen löst die Verriegelung. Im Eintreten ziehe ich die Kapuze vom Kopf, bevor mein Vater unangenehme Fragen stellt.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt