Ich bin mir absolut sicher, dass sie den allerkleinsten Verhörraum ausgewählt haben, den es auf unserem Modul gibt. Die Knie an die Brust gezogen hocke ich an der kalten Wand hinter dem Tisch mit Stuhl. Ich kann nicht verhindern, dass mein Körper behände vor und zurück wiegt. Es ist kalt. Nicht eisig, aber kühl genug, dass ich friere.
«Henrietta Palmer», höre ich einen Mann in einiger Entfernung sagen. Seine Stimme weht unter dem Türschlitz hindurch.
Dad braucht genau neunundzwanzig Schritte bis er hinter der kleinen Aussparung in der Metalltür erscheint. Sein Blick ist frei von jedem Mitleid. Ich will ihn nicht ansehen. Ich will den Kopf abwenden, damit ich dieses Gesicht nicht mit dem des Mannes gleichsetzen muss, der mir beigebracht hat, wie man Fahrrad fährt und der mir jeden Tag mein Frühstücksbrot eingepackt hat. Aber er würde es falsch verstehen. Er würde denken, dass ich mich schäme für das, was ich getan habe, dass ich es bereue, dass ich schwach bin. Aber ich bin nicht schwach und ich bereue nichts!
«Ich soll nach deinen Verletzungen sehen», sagt er. Dad stellt seinen Arztkoffer auf den Tisch und wartet, dass ich aufstehe. Ich bleibe sitzen und starre ihn an.
Mein improvisierter Angriff hat natürlich nicht viel geholfen. Zu fünft haben sie sich auf mich gestürzt, als wäre ich eine schwerbewaffnete Kriminelle. Einer hat mich zu Boden geworfen, ein anderer hat mir einen Tritt verpasst und noch einer hat meinen Arm so lang mit seinem Schlagstock bearbeitet, bis ich das Desinfektionsmittel losgelassen habe. Dann haben sie mich weggeschleppt und hier eingesperrt. Und jetzt steht mein Vater vor mir und schafft es sogar mir von oben herab in die Augen zu sehen.
«Du steckst in ziemlich großen Schwierigkeiten», stellt er fest.
Als wäre das nicht offensichtlich. Ich sehe ihn einfach weiter stur an. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen? Wann ist er zu diesem Menschen geworden, der seine eigene Tochter den Haien zum Fraß vorwirft?
«Was hast du dir nur dabei gedacht, Henrietta?»
Meinem Mund entfährt ein geschnauftes Lachen.
«Wer hat dir beigebracht, solchen Menschen zu vertrauen?»
«Mom!», fauche ich. Seine Gesichtszüge werden starr. «Aber das hast du wahrscheinlich vergessen. Genau wie du sie vergessen hast!»
«Deine Mutter hätte nie gewollt ...»
«Meine Mutter hätte gewollt, dass es eine gerechte Lotterie gibt. Dass ihr Lebenswerk genau so umgesetzt wird, wie sie es geplant hat. Dass jeder hier die gleiche Chance bekommt.» Ich stehe vom Boden auf. Die Wut verschlingt den Schmerz meiner Glieder und Wunden. «Wie konntest du sie so hintergehen?»
«Sie wollte, dass wir alles aufgeben», brüllt er. Seine Arme fliegen in die Luft. «Ich habe mein ganzes Leben darum kämpfen müssen, endlich da zu sein, wo ich heute bin. Und dann soll der Zufall darüber entscheiden, wer ab jetzt das Sagen hat? Was haben diese Leute denn bitte erreicht?» Er streicht sich die nicht vorhandenen Haare zurück. «Die kommen aus irgendeinem Slum gekrochen und sollen Sekretäre werden. Das entspricht nicht der natürlichen Ordnung!»
«Es gibt keine natürliche Ordnung mehr!», sage ich betont langsam.
«Oh, doch, die gibt es und diese Leute sind kein Teil davon. Aber deine Mutter wollte das genauso wenig verstehen wie du.»
«Was soll das heißen?»
«Sie hat von den Manipulationen gewusst. Gleich nach der Verkündung hat sie es rausgefunden. Sie hat es gemeldet, aber das Concilium hat beschlossen den Fall zu den Akten zu legen. Sie hätte es dabei belassen sollen. Aber stattdessen suchte sie auf dem ganzen Modul nach diesem Jungen.»
Der Sommerregenduft von Aidens Jacke strömt mir in die Nase und die Sehnsucht nach seinem vertrauten Lächeln schickt ein Beben durch meinen ganzen Körper.
«Was wollte sie von ihm?»
Dad schnauft.
«Wieso wollte sie ihn finden?», frage ich lauter. Ein Blick in Dads leidverzerrtes Gesicht reicht, um mich zurückweichen zu lassen. «Unser Platz gehört den Sullivan-Geschwistern!»
«Unser Platz gehört uns!», stellt Dad klar. «Ich habe immer alles für unsere Familie getan. Ich habe uns vor dem sozialen Ende bewahrt.»
Mir kommt die Galle hoch und eigentlich will ich sie ihm direkt vor die Füße spucken. Direkt vor diese glattpolierten Lackschuhe, in denen sich weiß das Licht der Leuchtstoffröhren spiegelt.
«Du hast alles getan, was nötig war, um an deiner alten Stellung festzuhalten. Sogar Mom hast du hintergangen! Du hast das alles nur für dich getan!» Die Worte zucken wie ein Blitz durch meine Gedanken und hinterlassen eine kaltglühende Spur des Zorns. Wie ein Haarriss, der jeder Zelle meines Organismus einen Schaden zufügt, der sie nicht umbringt, aber nachhaltig schwächt. «Wie viel hast du bezahlt?», frage ich.
Dads Blick wird finster.
«Womit», korrigiert er und betrachtet mich wachsam. «Das ist die eigentliche ...»
«Dr. Palmer?»
Die Tür schwingt auf und zwei Sekretäre treten herein. Dad nickt mit dem Kopf. Nur eine höfliche Begrüßung, aber für mich sieht es wie eine Verbeugung aus.
Die Frau setzt sich an den Tisch und schlägt ein Notizheft auf. Dann fällt ihr Blick auf den Stuhl, der für mich bestimmt ist. Ihre Augenbrauen schieben sich eng zusammen, als sie bemerkt, dass er leer ist. Sie schaut zu mir auf und das kühle Blau ihrer Augen verschlingt jede meiner Emotionen wie ein schwarzes Loch.
Hailey ist eine gutaussehende, junge Frau. Das Weiß ihrer Uniform macht sie elegant und gleichzeitig kraftvoll. Es gäbe nichts an ihr auszusetzen. Sie ist makellos schön und wirkt sympathisch mit diesem milden Zug um den Mund.
Bevor ich darüber nachdenken kann, wende ich den Blick zu dem anderen Sekretär. Als ich ihn ansehe, zeigt sich keinerlei Regung in Conrads Miene. Ich fühle mich wie ein Waschbär. Ein Waschbär, dessen Gesicht wieder wehtut von Conrads Schlag.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...