Sekretäre sind mir unheimlich. Sobald ich in ihrer Nähe bin, überkommt mich das gleiche mulmige Gefühl, wie wenn ich früher schwerbewaffneten Polizisten in der U-Bahn begegnet bin. Ich weiß, sie sind zu meinem Schutz da. Trotzdem würde ich mich besser fühlen, wenn es sie nicht gäbe, wenn sie nicht notwendig wären.
«Mach sowas nie wieder, verstanden?», keift Aiden und hält mir seinen ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase.
Ich ziehe mir das Handtuch vom Kopf. Ich werde das nie wieder tun, aus dem einfachen Grund, dass ich nie wieder in diese Situation kommen werde!
«Es tut mir leid», presse ich hervor, «aber ich kann dir nicht helfen.»
«Du kannst», sagt er schroff. «Du willst nur nicht.»
Ich beiße mir auf die Lippe. Keine Ahnung, jemandem eine Abfuhr zu erteilen, war noch nie meine Stärke. Und ich verstehe ihn ja. Irgendwie.
«Woran liegt es?», will er wissen, lehnt sich gegen die Kante des Schreibtisches und starrt mich mit verschränkten Armen an. Wut funkelt in seinen Augen.
«Ich hab viel zu tun», rede ich mich heraus. «Ich kann es nicht gebrauchen, dass Sekretäre mich observieren oder dass das Concilium mich im Visier hat. Wenn sie mich beobachten, werden sie auch Conrad und Judith überprüfen. Ich kann nicht riskieren, dass irgendwer meinetwegen in Gefahr gerät.» Wieder bringe ich es nicht über die Lippen, ihm zu sagen, dass ich nicht an seine Theorie glauben kann.
«Oder liegt es vielleicht daran, dass ich ich bin?» Er hebt die Augenbrauen.
«Was willst du damit sagen?»
«Sagen wir, Conrad würde dich bitten, ihm bei der Aufklärung der Manipulation zu helfen. Oder Jake Bishop? Oder Ryan? Christian? Was würdest du dann tun?» Aiden beugt sich zu mir, als könnte er die Antwort nur in meinen Augen sehen. Ich rühre mich nicht vom Fleck, selbst als sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt ist. «Du musst mir nicht helfen. Ich finde auch so einen Weg, aber wenn du nicht mitmachen willst, weil ich der Grund dafür bin, dann will ich, dass du es mir ins Gesicht sagst.»
«Du bist nicht der Grund dafür», entgegne ich schlicht und hebe die Schultern.
«Ich habe deine Mutter öfter gesehen als du. Willst du mir ehrlich weiß machen, du empfindest keine Wut, keine Eifersucht, wenn du mir gegenüberstehst?»
«Nein.» Jede Menge Leuten haben meine Mutter öfter zu Gesicht bekommen als ich. Nichts, was ich nicht gewohnt gewesen wäre. So war sie eben.
«Dann hilf mir.» Seine Stimme klingt heiser, als würde es ihm körperlich wehtun, mich anzubetteln. «Du bist die Einzige, die es kann.»
«Wieso?» Mir wird schlagartig bewusst, dass ich damit zugestimmt habe. Der Rest ist Feinarbeit.
Aidens Blick wird weicher, fast freundlich. Er sieht auf mich herab, wie ein Meister auf seinen Schüler. Nein. Wie ein Verbrecher auf seinen Komplizen. Geradezu stolz verzieht er seinen Mund zu einem halbseitigen Lächeln.
«Weil du keinen Anspruch auf deine Position erhebst.»
Ich sehe ihn an und meine Kehle schnürt sich zu. In der zweiten Woche nach Schulbeginn mussten wir alle an einer Diskussion teilnehmen und unsere Ansichten zum Vilex-System darstellen. Das waren exakt meine Worte und alle haben mich angesehen, als wäre ich eine paranormale Erscheinung. Wie kann es sein, dass er sich daran erinnert?
«Finde alles über die Gewinnmitteilungen heraus. Je schneller du es hinter dich bringst, umso schneller bist du mich los.» Er wendet sich zur Tür. «Und nur zur Information: Ich komme zu dir. Nicht umgekehrt.»
Dann ist er verschwunden. Keine Ahnung wohin. Ohne ihn ist das Apartment seltsam leer. Seufzend lasse ich den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich bin so eine hohle Nuss!
Die Lotterie ist Monate her. Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr daran gedacht. Aber trotzdem erinnere ich mich sehr genau an die Anspannung im Lottobüro. Die Luft hat förmlich geknistert. Wir waren eine der ersten Familien, die ihre Zahlen abgegeben hat. Der Durchschlag unseres Tipps ging an das Concilium, das Original blieb bei uns. Mit der Gewinnverkündung flatterten Briefe in jedes Apartment, auf denen die wirklichen Gewinnzahlen standen. Stimmten sie mit den getippten überein, musste man sich bei einem Lotto-Sekretär melden, um sich ins Vilex-System eintragen zu lassen.
Ich öffne die Datenbank und tippe brav die Suchbegriffe in die Suchleiste ein. Der Computer spuckt ganze einhundertsechsunddreißig Einträge aus. Wahllos klicke ich den ersten Beitrag an. Es ist ausgerechnet die Gewinnmitteilung, die damals alle Familien bekommen haben. Die Ziffern lauten:
4 15 29 34.
Die Erinnerung an den Tag, als ich mit meinen Eltern beim Abendessen saß und über die Wahl der Zahlen gesprochen habe, hängt mit einem Mal über mir, wie eine große Gewitterwolke. Vier Zahlen zwischen eins und vierzig. Die erste zwischen eins und zehn. Die zweite zwischen elf und zwanzig. Die dritte zwischen einundzwanzig und dreißig. Die vierte zwischen einunddreißig und vierzig.
Ich durfte im ersten Quadranten wählen. Die Vier ist es geworden, weil sie in jedem wichtigen Datum meines Lebens eine Rolle spielt. Mein Vater ist im April geboren, genau wie ich. Meine Mutter kam am vierten Januar zur Welt. Sie starb auch am vierzehnten Mai, was ich damals noch nicht wissen konnte. Conrad und ich sind am vierundzwanzigsten Juli zusammengekommen. Die Flut überspülte mein Zuhause am vierzehnten März und mein Abschlussball hätte am vierten Juni sein sollen.
Mein Vater wählte die fünfzehn, weil es das Alter war, in dem er sich entschied, Arzt zu werden. Meine Mutter meinte, die neunundzwanzig wäre einfach eine komische Zahl, die sowieso niemand leiden konnte und daher niemand wählen würde. Wie sich herausstellte, lag sie damit ziemlich daneben. Die vierunddreißig haben wir gemeinsam ausgesucht. Es ist das Alter unserer Hündin Lotta in Menschenjahren. Wir mussten sie zurücklassen, weil Tiere an Bord nicht erlaubt sind.
Ich habe keinen Schimmer, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass überhaupt eine relevante Anzahl von Familien die gleichen Zahlen tippt. Aber das spielt auch keine Rolle. 4 15 29 34. Eine Kombination, die über das Leben aller an Bord entschieden hat. Oder auch nicht.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...