«Was willst du am Zentralrechner?»
«Das geht dich nichts an.»
Perry kneift die Augen zusammen.
«Dann such dir jemand anderen, der dir hilft.»
Ich seufze. Von mir erfährt sie kein Wort über die Manipulation. Nicht bevor es nicht auch alle anderen erfahren. Womit wir bei Lüge Nummer zwei sind.
«Aiden will es dir selbst sagen.»
Perry schnaubt und schüttelt den Kopf, aber es ist so typisch für ihren Bruder, dass sie es glauben muss.
«Hat es etwas mit dem Unfall deiner Mutter zu tun?», fragt sie stattdessen.
«Nein», antworte ich schnell, um zu verbergen, wie kalt sich mich erwischt hat. Mir ist nicht klar, wie sie darauf kommt, aber dennoch setzen sich meine Erinnerungen in Gang. Mom wurde zu einem Einsatz mit anderen Sekretären gerufen, obwohl sie dafür nicht ausgebildet war. Der Auftrag lautete, auf Deck 8 einem entlaufenen Straftäter den Weg abzuschneiden. Soweit so gut. Bis alles aus dem Ruder lief. Die Einheiten haben sich getrennt, Mom musste allein weitergehen und ist diesem Mistkerl direkt in die Arme gelaufen. Aber sie war schlau, hat ihn fast zur Kapitulation gebracht. Bis die anderen Sekretäre aufgetaucht sind und alles in einer chaotischen Schießerei gegipfelt hat. Drei Leichtverletzte, fünf Sekretäre in Lebensgefahr und meine tote Mutter. Es war ein Unglück.
«Was springt für mich dabei raus?», zerreißt Perrys Ansage meine Gedanken. «Ich lasse mich kein zweites Mal von euch über den Tisch ziehen.»
«Schon mal von Bob Coleman gehört?» Mason wäre stolz auf mich. Ich kenne Perry nicht gut, aber selbst mir ist nicht entgangen, wie sehr sie auf jede Herausforderung geiert, die ihr unter die Nase kommt. Auch wenn ich mich mit Coleman auf sehr dünnes Eis begebe. Aber Perrys Augen funkeln. «Dein Bruder versucht ihn in diesem Moment, auf die falsche Fährte zu locken.»
«Als ob», schnaubt Perry und mir rutscht das Herz in die Hose. Sie zieht sich eine weiße Jacke über und bindet ihr Haar neu zusammen. «Als ob Nick gegen Coleman eine Chance hätte. Dämlicher Idiot!»
Liebevolle Worte.
«Kommst du nun mit oder nicht?» Mir läuft echt die Zeit davon.
«Wir sollten keine Zeit verlieren.» Perry hechtet zur Tür.
Ich löse mich aus meiner Versteinerung und folge ihr. Sie geht voraus und führt uns von ihrer Wohnung einen schmalen Korridor entlang zum nächsten Treppenhaus. Danach dirigiert sie uns drei Decks weiter oben auf dubiösen Nebengängen zum nächsten Aufgang. Wir schweigen, was wohl auch besser ist.
Je näher wir dem Concilium kommen, umso intensiver wird die Atmosphäre um uns herum. Es ist, als hängen tausend verschiedene Gerüche in der Luft, die sich wunderbar zu einem einzigartigen Duft zusammenfügen. Der Geruch von Macht und Wohlstand. Wir passieren den zentralen Kontrollpunkt ohne Probleme. Bin ich eigentlich die einzige, die sich noch nie unerlaubt Zutritt zum Conciliumsdeck verschafft hat?
Schon wenige Schritte hinter der Lichtschranke nehme ich noch etwas anderes als diesen speziellen Geruch wahr. Etwas genauso wenig greifbares und ich kann es nicht zuordnen. Bevor wir in den nächsten Korridor biegen, werfe ich einen Blick zurück. Da ist nichts. Niemand. Nicht einmal Kameras. Ich straffe die Schultern und schließe zu Perry auf.
«Pass doch gefälligst auf!», zischt Perry, als ich beinahe in sie hineinlaufe.
Ich hebe beschwichtigend die Hände. Irgendjemand sollte mich warnen, bevor ich nächstes Mal eine vergleichbar bescheuerte Idee habe, wie die ausgerechnet Aidens Zickenschwester um Hilfe zu bitten.
Ich überprüfe die Ecken des Ganges erneut auf Kameras, was bescheuert ist, weil Perry den Weg kennt. Sie kennt unser Ziel und ist nicht weniger in Gefahr als ich. Aber sie muss doch auch merken, dass hier irgendwas komisch ist.
Perry verdreht die Augen und marschiert weiter. Gang um Gang fliegt an uns vorbei. Sie lässt mir wenig Gelegenheit zur Orientierung oder zum Verschnaufen. Ich habe Mühe ihr zu folgen, weil mein Fußgelenk mit jedem Schritt dicker wird. Die Nähte meiner Schuhe reiben an meiner Haut. Nicht mehr lang und ich habe auch noch Blasen.
Gemurmel im nächsten Gang lässt uns anhalten. Ich lehne mich gegen die Wand und gönne meinem Fuß die kurze Entlastung, auch wenn ich weiß, dass er danach nur umso mehr wehtun wird.
«Weiter!», zischt Perry.
Zu schnell. Ich verziehe das Gesicht, als ich mein Gewicht auf den kaputten Fuß setze. In diesem Tempo schaffe ich es vielleicht nach oben, aber nicht wieder zurück. Und im Gegensatz zu ihr, weiß ich, dass dort kein Aiden auf uns wartet. Dafür wird mir gerade umso klarer, dass mein Plan beim Finden des Zentralrechners aufhört. Was mache ich, sobald Perry feststellt, dass ich sie nur ausgetrickst habe? Andererseits sollte ich mich erstmal um das aktuelle Problem kümmern. Irgendetwas sitzt uns direkt im Nacken und es kommt näher, je länger wir uns hier oben aufhalten. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir direkt in eine Falle gelaufen sind.
«Verdammt!», flucht Perry. Sie kommt zwei Schritte zurückgelaufen und scheucht mich mit den Armen wedelnd in einen abzweigenden Korridor. Keine dreißig Sekunden später passiert eine Gruppe von Wachdienstsekretären unser Versteck.
«Ich dachte, es gibt nur drei Wachtrupps? Das war schon der sechste!», fahre ich sie an.
«Offenbar haben sie die Anzahl erhöht», feuert sie zurück. «Und da ich mir vorstellen kann, dass du und mein Bruder daran nicht ganz unschuldig sind, solltest du schön den Ball flach halten!»
Ich verdrehe die Augen, bevor wir beide auf den Korridor spähen.
«Hier ist definitiv zu viel los», schlussfolgert Perry. «Wir müssen einen Umweg gehen.»
DU LIEST GERADE
Only Water - Kenne deinen Feind
Fiksi IlmiahDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...