Conrad sackt in sich zusammen und fällt zu Boden. Aiden hechtet auf ihn zu, doch kurz bevor er uns erreicht, fällt sein Blick auf mich und die Person, die mich immer noch erbarmungslos im Würgegriff hält. Er schnappt nach Luft. Seine Augen huschen zwischen Conrad, der stöhnend am Boden liegt, und Perry hin und her.
«Was hast du getan?», keucht Aiden. Er hält seine Schwester mit sturem Blick gefangen.
«Jetzt komm mir nicht so», jammert die theatralisch. «Nur weil du keinen Spaß verstehst.»
«Spaß?», schnaubt Aiden aufgebracht. «Du hältst ihr eine verdammte Waffe an den Kopf!» Sein Blick findet meinen. Ich versuche sämtliche Gefühle, die irgendwo in meinem geschundenen Herzen explodieren, in diesen Blick zu legen und kämpfe gleichzeitig die Tränen nieder, die mir in die Augen steigen.
Conrad krampft auf dem Boden zusammen. Er windet sich, sucht mit der Hand nach dem Einschussloch in seiner Schulter. Als er es findet, presst er die Handfläche dagegen und versucht auf diese Weise den endlosen Blutschwall zu stoppen, der aus der Wunde hervortritt.
Aidens Blick wandert erneut zu mir. Ich klammere mich daran fest, als könnte ich mich daran aus dieser ganzen Lage herausziehen, als könnte ich daran emporklettern.
«Ich hab dir gesagt, ich lass dich das nicht allein machen», spricht er in meine Gedanken hinein und sein Blick wird hart, als er sich wieder an Perry wendet. «Ich hätte nie gedacht, dass du so weit gehen würdest.» Er hebt die Waffe wie Conrad zuvor, doch jeder im Raum weiß, dass er niemals seine kleine Schwester erschießen wird. Er hat ja nicht einmal Conrad erschossen.
«Im Gegensatz zu dir weiß ich eben, wie ich meine Ziele auf schnellstem Weg erreichen kann», gibt Perry zurück.
«Im Gegensatz zu ihm verrätst du deine eigene Familie, um einen Platz in einer Gesellschaft einzunehmen, die dir nichts dergleichen bieten kann», knirsche ich mit zusammengebissenen Zähnen. «Ist es das wert?»
«Was weißt du schon davon?», faucht sie. Mit der Waffe drückt sie meinen Kopf zur Seite. «Du hast keine Ahnung wie es ist, verstoßen zu werden, weil dein Bruder sich nicht an die Regeln halten kann. Du weißt nichts davon, wie es sich anfühlt, seinen eigenen Freunden das Essen auf Teller klatschen zu müssen und dabei zuzusehen, wie sie einer sicheren Zukunft entgegenfiebern.»
Aidens Hände beginnen zu zittern. Die Falten auf seiner Stirn verraten, wie sehr er sich anstrengt, die Kontrolle über die Waffe zu behalten. Aber er kommt nicht dagegen an.
«Ich habe keinen Fehler gemacht», setzt Perry fort. «Ich habe alle Gesetze befolgt, jede Challenge erfüllt und was ist der Dank? Dass ich zum Sündenbock seiner Vergehen werde?»
«Es tut mir leid.» Aidens Stimme klingt fest. Seine wachen Augen sind direkt auf Perry Gesicht gerichtet. Es liegt so viel mehr in diesen Worten, als er ausspricht.
Perry wendet den Kopf von mir zu ihm. Als sie seinem Blick begegnet, spüre ich, wie der Druck ihrer Waffe nachlässt.
Ich schnappe nach Luft. Im selben Moment reiße ich Perrys Arm zur Seite und tauche darunter hindurch. Ich halte ihn gefangen, drehe ihn, sodass sie aus dem Gleichgewicht kommt. Sie wirbelt herum und holt mit der Waffe aus. Ich weiche ihrem Schlag aus, stolpere über Conrads Beine und fange mich, als Aiden nach meinem Arm greift. Er schiebt mich hinter sich, während er Perry im Blick behält.
Für meine Nahkampfphobie war das doch ganz gut.
«Nickolas Sullivan», meldet sich nun der fette Abteilungsleiter zu Wort. Er kommt auf uns zu, verbleibt dann aber in sicherem Abstand. «Wie schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.»
Ein Schnaufen erklingt. Es kommt von Coleman.
«Wer sind Sie?», fragt Aiden, ohne seine Schwester aus den Augen zu lassen.
«Hector Jackson, Abteilungsleiter der Psychological Control Agency.» Er grinst selbstgefällig und streicht seine Uniform glatt. «Ich scheine deutlich mehr über dich zu wissen, als du über mich.»
Mir schnürt sich erneut die Kehle zu. Reflexartig kralle ich mich an Aidens Arm fest, der mich noch immer in Schach hält. Der vertraute Geruch von Sommerregen strömt mir in die Nase. Es kommt mir vor, als könnte ich endlich wieder frei atmen.
«So? Was wissen Sie denn?», fragt Aiden herausfordernd.
Ich halte mich zurück, ihm in die Seite zu stoßen. Wir sind in de falschen Position für Machtspielchen.
«Nun», meint Jackson gedehnt, «zum Beispiel, dass du über die Manipulationen bescheid zu wissen glaubst, dass Susan Palmer dir geraten hat, unterzutauchen, dass du einen Narren an deiner kleinen Komplizin gefressen hast und dass du trotzdem nicht im Stande bist, ihr zu gestehen, dass du dabei warst, als ihre Mutter starb.»
Aidens Muskeln beginnen unter meinen Händen zu zucken, während der Boden unter mir stärker erbebt denn je. Er war dabei. Hat er sie erschossen? Wieso sollte er das tun?
Ich hole so tief Luft, bis meine Lungen zum Bersten gefüllt sind. Ich dränge die Zweifel zurück, die erst Perry und jetzt Jackson in mir säen wollen. Es geht hier nicht um meine Mutter. Es geht nicht darum, was Aiden vielleicht getan hat. Sie versuchen doch nur, uns abzulenken. Wir glauben, über die Manipulation Bescheid zu wissen. Was meint er damit? Was haben wir übersehen?
Ich gehe alles durch, was mir zu Hector Jackson einfällt. Jedes Wort, das meine Mutter über ihn verloren hat. Jackson hat das Endstadium der Lotterie abgesegnet. Er steht in direktem Kontakt mit den obersten Sekretären des Conciliums und seine Abteilung war für die Durchführung der Lotterie verantwortlich. Demnach ist er es, der die Manipulation zugelassen hat. Er hat sie unterstützt, hat meinen Vater und so viele andere mit der Aussicht auf eine sichere Zukunft erpresst.
«Sie hätten unfassbar viel gewinnen können, hätten sie sich für die Vilex-Plätze bezahlen lassen», murmle ich in mich hinein. Aiden dreht mir sein Ohr zu, damit er mich verstehen kann. «Das Risiko unerwünschte Personengruppen in die höheren Reihen aufzunehmen war groß. Wieso haben sie sich für die Lotterie entschieden?»
«Die Lotterie», ruft Aiden dem Sekretär zu, «was hat es damit auf sich? Sie haben doch vorhergesehen, dass es Leute geben würde, die betrügen wollen.»
Ich kralle meine Finger noch fester in seinen Arm. Sie haben es nicht nur gewusst. Sie haben fest damit gerechnet.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Fiksi IlmiahDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...