«Henrietta?»
Ich fahre erschrocken herum. Heißer Kaffee spritzt mir auf die Hand. Mason Montgomery setzt sein bestes Lächeln auf, als er meinem Blick begegnet. Mein rechthaberischer Ich-habe-viel-mehr-Lebenserfahrung-obwohl-ich-erst-zwei-Jahre-älter-bin-als-du-Mentor bleibt mir freitags eigentlich erspart.
«Kann ich dich einen Moment sprechen?», fragt er mit vor dem Bauch aneinandergelegten Fingerspitzen.
Conrad schaut zuerst mich an, dann Mason. Seine Augenbrauen schieben sich zusammen, als er ihn von Kopf bis Fuß begutachtet.
«Sicher», antworte ich gelassen und erhebe mich. Ich folge Mason hinaus auf den Flur. Da alle anderen beim Essen sitzen, sind wir vollkommen allein. Dass er einen so öffentlichen Ort für unser Gespräch wählt, beruhigt mich.
«Wie fühlst du dich?», fragt er leise und setzt diese forschende und zugleich verständnisvolle Psychologen-Miene auf.
«Alles bestens, wieso?» Meine Stimme schnippt am Ende des Satzes in die Höhe. Mason wäre kein Mentor, wenn er das nicht bemerken würde.
«Du hast dich gestern ungewöhnlich lang in einem unüberwachten Bereich aufgehalten und deine Vitalwerte haben völlig verrückt gespielt. Willst du mir sagen, was da los war?», versucht er es auf die einfühlsame Art.
«Ich habe ...» Verdammt! Hätte ich mich doch bloß an das Training gehalten. «Ich habe mich verlaufen.» Stimmt ja irgendwie. «Ich habe mich verirrt und es war dunkel und kalt und es gab keine Fenster und da hatte ich einen kleinen Aussetzer.» Wenn ich eine leidvolle Miene aufsetze, kauft er mir das bestimmt ab.
«Gab es denn irgendetwas, das dich in Panik versetzt hat?»
«Abgesehen von der Dunkelheit und den fehlenden Fenstern? Nein.», lüge ich und verdränge die Erinnerung an den Geruch der Rauchbomben.
Mason nickt bedächtig und studiert dabei ausgiebig meine Gesichtszüge. Er hat die Hände noch immer vor seinem Körper gefaltet. Stabilität, Offenheit, Distanz.
«Und ansonsten ist dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen?»
Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Sehr subtil, Mason. Darin warst du schonmal besser.
«Nein», sage ich und falte ebenfalls die Hände ineinander.
«In Ordnung.» Er nickt zweimal, während seine hellen Augen in meinen nach der Wahrheit forschen und ich mich frage, wieso er mich nicht nach den Rauchbomben fragt. Sowas entgeht dem Concilium doch nicht, selbst wenn es ihm unüberwachten Bereich ist. «Dein Ergebnis ist nicht gerade eine Glanzleistung, Henrietta», verkündet er stattdessen.
Ich presse die Lippen aufeinander. Immerhin bin ich in einem Stück da rausgekommen. Ob Nick es geschafft hat? Galt die Explosion ihm? Ist er verletzt? Und wenn Mason die Explosion nicht erwähnt, bedeutet das, dass er nichts davon weiß oder dass er nicht will, dass ich davon erfahre? Ich zwinge mich dazu, nicht den Kopf zu schütteln, um den Gedanken loszuwerden.
«Was bedeutet das für mich?»
«Dass du in den Prüfungen wirklich gut sein musst, um eine Chance auf das Stipendium zu haben.»
Verdammter Mist! Ich hab von Anfang an gewusst, dass diese Challenge meinen Stand ruinieren wird.
«Eine letzte Frage, dann bist du mich los.»
Hoffentlich! Ich setze mein bestes Lächeln auf.
«Ich muss dich das fragen, also: Was hast du gelernt bei dieser Challenge?»
Dass ich die Protokolle lernen sollte. Und eine Einheit am Kampfsimulator nötig habe. Und dass Nickolas Sullivan sich irgendwo auf Deck 1 rumtreibt und er mir etwas sagen will und das alles verdammt nach Ärger klingt.
«Dass Mut und selbstsicheres Auftreten auf den unteren Decks ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit eines Sekretärs sind», rattere ich herunter, was er hören will.
Mason entlockt es ein verzücktes Schmunzeln.
«Wir sehen uns am Montag.» Er hebt freundschaftlich die Hand und stolziert davon.
Ich will gar nicht daran denken. Montags stehen Simulationen auf dem Lehrplan. Aber er scheint meine Lüge gefressen zu haben und das ist für heute ein Gewinn.
«Was hat er gesagt? Ging es um deine Challenge?», ist Conrads Begrüßung, als ich an den Tisch zurückkehre.
«Alles gut gelaufen», sage ich beschwichtigend und meide Judiths durchleuchtenden Blick. Ist das schon gelogen?
«Zum Glück.» Conrad drückt meine Hand und strahlt mich mit diesem erleichterten Lächeln an, das ich schon immer seltsam fand.
Warum macht er sich solche Gedanken? Seine Ergebnisse sind hervorragend. Er ist der zweitbeste Sekretärsanwärter unseres Jahrgangs. Jede Challenge hat er mit Bravur gemeistert, soweit ich das aus den öffentlichen Ergebnislisten ablesen kann. Wenn jemand das Kidney-Stipendium verdient hat, dann er und das sage ich nicht, weil ich es mir von ganzem Herzen für ihn wünsche. Abgesehen davon ist Jake Bishop ein fauler Sack. Der wird in den Theorieprüfungen absolut nichts auf die Reihe kriegen.
«Ja, zum Glück», lächle ich. «Ich gehe jetzt nach Hause. Am Montag erwartet mich ein Simulationstest bei Mason.»
«Sehen wir uns heute Abend?», fragt Conrad, während er aufsteht, um mir den Stuhl zurückzuziehen.
«Um sieben bei dir?», zwinkere ich, stelle mich auf Zehenspitzen und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen.
«Klingt fantastisch», wispert er gegen meinen Mund. Wie auf Knopfdruck pumpt mein Herz flirrendes Konfetti durch meinen Körper.
«Ich komme noch ein Stück mit.» Judith springt von ihrem Stuhl auf.
Ich verkneife mir ein Augenrollen, denn eigentlich hatte ich gehofft, mit meinen Gedanken allein zu sein. Meine Freundin schultert ihre Tasche und streicht den Rock ihrer Uniform glatt. Ich verfolge ihren Blick, der quer durch die Kantine auf Ryan Misbutch fällt. Dieses Augenrollen kann ich dann doch nicht zurückhalten. Judith vergöttert diesen Typen seit Wochen, himmelt ihn in jeder Gemeinschaftsstunde an und will kein Wort davon hören, dass er dumm ist wie Brot.
Ich verlasse die Kantine, bevor ihr Schmachtblick meinen Brechreiz ansprechen kann. Doch Judith holt mich am Aufzug wieder ein. Judith drückt den Knopf.
«Sag mal, was hat Mason wirklich gesagt?», will sie wissen.
«Dass es eng war.» Ich vertusche meine vage Ausrede mit einem Schulterzucken.
«Und das macht dir solche Sorgen, dass du den ganzen Tag ein Gesicht ziehst, als stünde eine zweite Flut bevor?» Sie zieht eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen in die Höhe.
Judith ist seit etlichen Jahren meine beste Freundin. Ich bin ein Einzelkind. Keines von der verzogenen Sorte, möchte ich behaupten, sondern eines, das sich immer Geschwister gewünscht hat. Judith ist nicht einfach eine Freundin. Sie ist wie eine Schwester für mich. Eine unfassbar direkte, nerdige und zugleich atemberaubend gutaussehende Lebensberaterin, die mir an der Nasenspitze ansieht, wenn ich lüge, und wie jetzt ihre Augenbraue noch etwas höher zieht.
«Was ist das nur mit dir und Conrad? Es sind nur ein paar Tests. Es gibt auch noch ein Leben drum rum und das System sorgt schon dafür, dass wir irgendwo unterkommen. Wir haben die Lotterie schließlich nicht umsonst gewonnen», meint sie und steigt ein.
Es stimmt. Wir haben die Lotterie nicht umsonst gewonnen. Die Frage ist nur, warum es Leute gibt, die, trotz dass sie zu den Gewinnern gehörten, sich jetzt vor dem Concilium verstecken?
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...