Der Sekretär verschwindet und Conrad lockert seinen Händedruck. Ich ziehe die Kapuze etwas zurück und spähe nach Kameras, aber zumindest in meiner Blickrichtung entdecke ich keine.
«Was machst du hier?», fragt Conrad und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ohne den Versuch zu starten, die Kapuze zu entfernen.
«Ich war bei meinem Vater.»
«So?» Er wippt kurz auf und ab. «Und? Hat er ... was gesagt?» Seine Hände verschwinden hinter seinem Rücken.
«Nichts weiter. Du kennst ihn doch», wage ich einen Scherz, obwohl es mir unangebracht erscheint.
«Ja, stimmt.»
Conrad verschränkt die Hände nur hinter dem Rücken, wenn er nervös ist. Aber nicht nur ein bisschen wie bei einem Vortrag vor versammelter Mannschaft. Eher wie vor einem Einstufungsgespräch mit dem ranghöchsten Sekretär seiner Abteilung. Er hatte schon drei davon und ist jedes Mal fast gestorben.
«Ich habe deine Ergebnisse gesehen. Nur noch fünf Punkte unter Jake Bishop.»
«Der Typ ist einfach gut», zuckt Conrad die Schultern. Er scheint nicht bemerkt zu haben, dass ich ihm meine Anerkennung aussprechen wollte. «Und du bist es auch. Meine Güte, 219 Punkte. Das muss man erstmal schaffen.» Wie ausgewechselt weicht seine enttäuschte Miene innerhalb des Bruchteils einer Sekunde einem charmanten Lächeln.
«Danke», grinse ich zurück.
«Du, Jetta, es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe, und die Sache mit dem Schwimmbad und das alles. Ich hätte meine Position nicht ausnutzen sollen.»
«Es ist in Ordnung», sage ich nur und lege ihm eine Hand auf die Schulter. «Es tut mir auch leid, was ich gesagt habe.» Obwohl es die Wahrheit war.
«Wenn ich gewusst hätte, dass du so gekränkt bist, dass du dich tagelang nicht bei mir meldest, wäre ich auch schon viel früher zu dir gekommen. Aber jetzt durch den Vorfall ist mir einiges klar geworden und ich möchte nicht, dass irgendetwas zwischen uns steht.»
«Welcher Vorfall?» Sämtliche Alarmsignale beginnen in meinem Kopf zu schrillen. Mein Herzschlag verdreifacht sich.
«Zwei Männer des Ordnungsdienstes wurden gestern auf Deck 1 überfallen», nuschelt Conrad und sieht auf seine Schuhe. «Jemand hat ihre Identität verraten.»
Ich atme ein und halte die Luft an. Ich habe sie verraten. Verdammte Scheiße. Ich war das!
«Ist ihnen etwas passiert?», versuche ich, ahnungslos zu klingen, was schwierig ist, weil mein Herz sich so fest zusammenzieht, dass es mir die Brust zerreißt.
«Sie hatten schwere Verletzungen. Es hat zu lang gedauert, bis wir sie gefunden hatten.»
«Soll das heißen ...?»
«Sie sind ihren Verletzungen erlegen, ja.»
Ein unsichtbarer Schlag presst alle Luft aus meinen Lungen. Meine Finger beginnen zu zittern. Ich stülpe den Ärmel darüber. Der Stoff vibriert auf meiner Haut. Ich habe zwei Männer auf dem Gewissen. Sie sind meinetwegen gestorben.
«Wir waren einfach nicht schnell genug», murmelt Conrad.
«Warst du dort?» Meine Stimme quietscht wie Nägel auf einer Tafel. «Auf Deck 1?»
«Sie brauchten jeden, den sie kriegen konnten.»
Ich falle ihm um den Hals, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich wüsste auch nicht welches. Aber meine Umarmung ist kein Akt des Mitgefühls oder Trosts. Ich will nur möglichst nah bei ihm sein, bevor er erkennt, was ich getan habe. Ich klammere mich an sein Hemd, um ihn nicht zu verlieren. Aber Conrad nimmt mich an den Schultern und schiebt mich von sich weg. Ich kann ihn nicht ansehen.
«Ich will, dass du weißt, dass zwischen uns alles gut ist. Ist es doch, oder?»
«Ja.» Wie viele Lügen kann ein Mensch ertragen? Wie viele Lügen kann ich ertragen?
«Dann wünsche ich dir viel Erfolg für deine Mission», sagt er und lächelt ein bisschen.
Eine Sekunde lang bin ich verwirrt, aber dann fällt mir meine Aufmachung wieder ein. Conrad muss glauben, ich bin «beruflich» unterwegs. Vielleicht nicht die schlechteste Ausrede.
«Danke», murmle ich und möchte auf der Stelle zu Staub zerfallen.
Er gibt mir einen vorsichtigen Kuss. Ich versuche, ihn zu erwidern, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Ich bin seine Zuneigung nicht wert.
«Bis morgen», flüstert er gegen meine Lippen. Dann dreht er sich um und geht davon und ich stehe da und fühle mich wie ein vergessener, tropfnasser Regenschirm.
Minuten später schwanke ich in halbwirklichem Trancezustand das letzte Stück der Treppe hinab. Ich lasse mich auf die untere Stufe fallen und vergrabe mein Gesicht in meinen zitternden, ärmelbedeckten Händen. Ich sollte weitergehen, aber meine Beine sind nur wabbelige Spagetti. Stattdessen atme ich meinen eigenen Atem ein. Hinter meinen Augenlidern flackern Lackschuhe auf und Küchenmesser und Kaffeebecher und Aidens Augen auf einem Foto. Nicks Augen. Ich wünschte, ich könnte mich neu erfinden.
«Du weißt es also schon», sagt jemand und ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, wer. Ich nicke einfach nur, ohne dass meine Hände der Bewegung folgen.
Ich hole das zerknüllte Papier aus der Tasche und halte es ihm hin. Ich habe es mir noch nicht einmal angesehen. Aber Aiden nimmt es nicht, also sehe ich ihn doch an.
«Keine Tränen?», fragt er überrascht und mit diesem spitzbübischen Zug um den Mund, womit er wirklich genauso aussieht wie damals, als wir uns noch regelmäßig über dem Meeresspiegel begegnet sind, ohne wirklich aufeinander zu achten. Er nimmt mir den Zettel aus der Hand.
«Nein», finde ich endlich meine Stimme wieder. Meine Beine gehorchen mir auch und ich stehe auf. Vielleicht habe ich ein bisschen mehr auf ihn geachtet, als er auf mich.
«Du hast Perrys Mitteilung geklaut?» Seine Augen weiten sich beim Anblick des blauen Papiers.
«Sie hat sie mir gegeben.» Ich streiche mir die Kapuze vom Kopf.
Aiden faltet das Blatt auseinander, woraufhin ein kleiner Zettel zu Boden segelt. Er hebt ihn auf und betrachtet ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen.
«Ich hoffe, du weißt, was du tust», liest er vor. «Fragt sich nur, für wen von uns das bestimmt ist.»
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...