Folge 3

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Man könnte den Ozean als eine wunderschöne, von der Sonne in glitzerndes Licht getauchte Aussicht beschreiben. Eine unendliche Weite, die sich jeden Tag direkt vor meinem Fenster bis zum Horizont erstreckt. Und wenn das hier eine Kreuzfahrt wäre, würde ich das vermutlich auch so sehen. Aber ich kann diese Grenzenlosigkeit nicht mehr ertragen.

Ich wende den Blick vom Panorama ab und konzentriere mich wieder auf den Bildschirm. In irgendeinem Fenster im Hintergrund warten die Protokolle für die Simulationen. Es besteht also immerhin die Möglichkeit, einen Blick darauf zu werfen. Aber es gibt nur einen Gedanken, der meinen Kopf beschäftigt.

Nickolas Sullivan versteckt sich vor dem Concilium.

Der Gedanke ist nicht neu, denn Nick hatte recht. Ja, ich frage mich, zu oft vielleicht, was mit ihm passiert ist. Wieso hat er ein Downgrade bekommen? Was hat er getan? Und wieso wird er angegriffen? Und von wem? Immerhin kann ich sicher sein, dass die Bomben nicht für mich bestimmt waren. Niemand wusste, wo ich mich genau aufhielt.

Ich nehme einen Schluck von dem Kaffee und richte mich in meinem Stuhl auf. Ich muss lernen, mir die beschissenen Protokolle eintrichtern und die Zusatzübungen absolvieren. Meine ganze Konzentration sollte sich auf das Stipendium richten und noch vorgestern in der gleichen Situation hätte sie das auch getan. Nur das Stipendium. Denke an die Zukunft! Das hat Mom immer gesagt.

Meine Mutter war maßgeblich an der Entwicklung des Vilex-Systems beteiligt. Sie war die Initiatorin. Die Lotterie beruhte auf ihrer Forschung. Eine gerechte Methode, um jeder Familie eine realistische Chance einzuräumen, Teil der Privilegierten zu werden. Ihre Arbeit hatte gezeigt, dass es der allgemeinen Befriedung dient, wenn ein kleiner Teil der Gesellschaft das Miteinander strukturiert, Regeln festsetzt und für Ordnung sorgt. Unter diesen Gegebenheiten könnten sich alle anderen Gesellschaftsschichten auf ihr privates Zusammenleben fokussieren.

Meine Mom hatte Termine mit Nick, das war mir nicht entgangen. Schließlich war er jede Woche mindestens drei Mal in unserer Wohnung aufgetaucht, um dann für mindestens zwei Stunden in ihrem Arbeitszimmer zu verschwinden. Aber ich dachte, die Treffen hätten danach aufgehört. Was hatte meine Mutter mit jemandem zutun, der die Vilex verlassen musste? Wie hat sie ihn gerettet? Und wovor?

Mein Blick gleitet wieder zum Fenster, wo Seile herabgelassen werden. Nur wenig später fährt eine Plattform vor der Glasscheibe in Position. Der dritte Freitag im Monat. Tag des Fensterputzens. Das mit der Konzentration kann ich dann wohl vergessen.

Als Teil der Vilex muss ich den Haushalt selbst machen und das bedauere ich keinesfalls. Putzen, aufräumen, Ordnung halten. Das ist alles nichts, was ich gut kann. Deshalb wird mein hübsches Apartment auch heute vom Chaos dominiert. Meine Klamotten häufen sich über dem Sessel. Auf dem Boden habe ich ein paar Schulsachen ausgebreitet, um sie später zu sortieren, was ich dann doch nicht machen werde. Die Schubladen meiner Kommode sind so vollgestopft, dass sie nicht mehr zugehen. Und das alles ist mir vollkommen egal. Es stört mich nicht, dass dieser Typ da draußen auf der Plattform schamlos in mein Zimmer glotzt und diese Unordnung sieht. Kann ihm doch egal sein. Auch Vilex sind nur Menschen!

Ich öffne ein weiteres Simulationsprotokoll. Mason wird mich bestimmt mit einem Gespräch beim Concilium quälen. Das habe ich im Gefühl. Oder doch mit einem psychoanalytischen Patientengespräch?

Der Fensterputzer zieht in gleichmäßigen Bewegungen das komische Fensterputzdings an der Scheibe runter. Ich drehe mich ein wenig zur Seite und rücke den Bildschirm in Position. Simulationsprotokoll A520b: Begegnung mit Bewohnern der Decks 1-3.

Schritt 1: Kontrolle der Überwachungsinstanzen. Dass es keine Kameras gab, hätte mich sofort verunsichern müssen, aber die Aufgabe war schließlich, nicht gesehen zu werden.

Schritt 2b (bei fehlender Überwachungsinstallation): Aufsuchen eines überwachten Bereiches. Ich hatte also die Wahl, entweder die Challenge zu verlieren und damit meine Position oder mein Leben in Gefahr zu bringen, was ja überhaupt erst durch die Challenge passiert ist.

Schritt 3: Sichtkontakt zur Kamera, Aufmerksamkeit erregen durch schnelle Bewegung.

Schritt 4: Bei Aufleuchten der blauen Kontrollleuchte Aussprache des benötigten Codes.

Nick hatte also, wenig überraschend, recht. Weiter unten auf der Seite stehen die Codewörter. Zur Meldung unerlaubten Verhaltens: A520b-301. Zur Meldung einer gesuchten Person: A520b-302. Zur Meldung einer Gefahrensituation und Anforderung von sofortiger Rettungseinheit: A520b-303.

Wer soll sich das bitte merken? Reicht es denn nicht, wenn man bei Gefahr um Hilfe ruft? Außerdem gibt das Protokoll überhaupt keine Hinweise, was ich mit dem Typ in der Zeit machen soll. Und wenn mich tatsächlich jemand überfallen hätte, wäre er bestimmt so freundlich gewesen, mir genügend Zeit zu geben, ein ultrapraktikables Codewort in eine Kamera zu schreien.

Schnaubend lasse ich mich im Stuhl zurückfallen. Mein Blick schweift erneut hinüber zu dem Fensterputzer, der in aller Seelenruhe seine Arbeit verrichtet. Die Pattform ruckelt im harschen Wind. Ihm scheint es nun auch unbehaglich zu werden. Prüfend wirft er einen Blick nach oben und betätigt dann einen kleinen Hebel, der die Arbeitsbühne hochfahren lässt. Es tut sich nichts.

Heute habe ich die Aufmerksamkeitsspanne einer wabbeligen Scheibe Toast. Also bitte. Protokoll B389: Berufungsgespräch. Schritt 1.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt