«Nimm doch mal die Kapuze ab, damit wir ordentlich miteinander reden können.»
Sie dürfen mich vielleicht nicht erschießen, aber mich festzunehmen verstößt gegen keine Regeln.
«Hey!»
Ein Arm schlingt sich um meine Schultern. Etwas Hartes drückt gegen meine Kapuze. Abgelatschte schwarze Sneaker treten neben meine Füße. Ich rühre mich nicht, kralle nur die Finger in den Saum meiner Ärmel. Erst dann beginne ich wieder zu atmen. Direkt vor meinem Gesicht sehe ich Aidens angespannte Miene. Seine Stirn presst sich gegen meine, dass es fast wehtut.
«Da schleppt man einmal ein Vilex-Mädchen ab und ihr wollt es einem kaputtmachen?», quengelt er halblaut und immer noch mehr zu mir gewandt als zu den Sekretären.
Wieso behauptet er eigentlich ständig, mich abzuschleppen? Ist das der einzige legitime Grund für ein Mädchen und einen Jungen zusammen zu sein?
«Wir wollen sie uns nur kurz ausleihen», sagt der Aufseher. Er holt unter seiner Jacke einen Stift hervor, dessen Ende er auf Aiden richtet.
Ich weiß, dass es kein gewöhnlicher Stift ist. Die Miene sondert ein Toxin ab, das zu sofortiger Bewusstlosigkeit führt. Wir haben sie in der Ausbildung verwendet. Und Conrad hat mir versehentlich erzählt, dass jeder Sekretär sie dabei hat, wenn er in die unteren Decks geht. Der Einsatz von Schusswaffen ist wegen der Metallwände zu gefährlich, wenn man enttarnt wird.
Ich schnappe nach Luft. Sie werden ihn umbringen! Im gleichen Moment hallen Conrads Worte in meinem Kopf wieder. Ein Sekretär darf niemals enttarnt werden.
«Sekretäre», hauche ich. Aiden reißt erschrocken die Augen auf. Ich schlucke, um die Angst loszuwerden. «Sekretäre!», brülle ich den Gang hinunter und mache mich los.
Hinter mir kommt der Strom zum Stehen. Ich spüre die Blicke in meinem Nacken. Für zwei Sekunden herrscht absolute Stille und es fühlt sich an, als würde das ganze Deck gleichzeitig einatmen. Dann wirft sich ein Junge auf den Aufseher und reißt ihn zu Boden. Er ist höchstens so alt wie ich. Das totale Chaos bricht aus. Bevor ich mich orientieren kann, packt mich jemand am Arm und zerrt mich fort. Erst im übernächsten Gang erkenne ich, dass es Joe ist.
«Was ist mit Aiden?», keuche ich. Mein Blick fällt zurück auf die Menge an der Biegung. Alle strömen zu den beiden Männern. Küchenmesserklingen blitzen im Neonlicht.
«Der kommt klar», sagt Joe nur und drängt mich weiter.
Wenn Aiden etwas passiert, wenn er verletzt wird oder verhaftet, stehe ich allein da. Ich allein mit einem Geheimnis, das unser ganzes Zusammenleben gefährdet, und dem Concilium im Nacken. Ich reiße meine Hand los. Das Metall verschluckt Joes Stimme. Er ist zu langsam, um mir zu folgen. Ich renne um die Ecke und krache gegen Aidens Schulter. Er hält mich fest, damit ich nicht falle.
«Los komm!», sagt er, nimmt meine Hand und wirft sich gegen die nächste Tür. Sie springt auf, wir stürmen in das Apartment und Aiden lässt mit einem Türknall das Chaos verstummen.
Mit dem Kopf an der Wand rutsche ich zu Boden. Die Panik brennt auf meinen Wangen, an meinem Hals, meinem Schlüsselbein. Ich kratze mich so heftig bis sich der Schmerz gleichmäßig über meiner Haut verteilt. Dann sinkt meine Stirn auf meine herangezogenen Knie.
Es ist gefährlich, als Vilex auf Deck 1 herumzuspazieren. Wir sind die Begünstigten, die Privilegierten, diejenigen die alles verloren und doch alles gewonnen haben. Die Leute hier haben nichts mehr. Keine Heimat, vielleicht keine Familie, keine Zukunft. Sie hassen uns, obwohl sie eigentlich das System hassen sollten. Das System, das meine Mutter erfunden hat. Nur Sekretäre hassen sie noch mehr. Sekretäre, die sich in ihre kleine Welt einmischen, die sie kontrollieren wollen.
Ich schlinge meine Arme um meine Brust, um das Schluchzen zu unterdrücken. Was, wenn es Conrad gewesen wäre? Hätte ich ihn genauso leichtfertig geopfert, um ein Geheimnis zu bewahren? Um Aiden zu retten?
«Wieso hast du das gemacht?» Aidens Knie tauchen vor meinen auf. Ich hebe den Kopf. Seine dunklen Augen sehen mich einfach an. Ohne Vorwurf.
«Ich wollte nur helfen», sage ich und es klingt genauso leer, wie ich mich fühle.
«Nein.» Er schüttelt den Kopf und formuliert seine Frage neu. «Wieso bist du allein weggegangen?» Er schaut mir direkt in die Augen und wirkt vollkommen ruhig dabei.
Ich zucke die Schultern und sehe weg. «Ich habe nicht nachgedacht», erkläre ich schwerfällig. Nicht eine Sekunde lang.
«Überlebenslektion Nummer eins: Nachdenken. Okay?» Er hält mir seine ausgestreckte Hand hin.
Ich schlage ein und lasse mich emporziehen.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Ciencia FicciónDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...