Ich lehne mich ein Stück zurück. Conrad schaut mich an. Mir fallen die bläulichen Schatten unter seinen Augen auf.
«Die Sache mit dem Programm vorhin ...»
«Ach, hör doch endlich damit auf», fällt er mir ins Wort. Seine Miene wird ärgerlich.
«Wieso? Was würdest du denn tun, wenn du sehen würdest, dass ein Programm dein Passwort kennt?»
«Ich würde gar nichts tun, weil es absolut unmöglich ist. Es gibt solche Programme nicht. Nicht hier. Und nicht auf deinem Computer. Wieso auch?»
Weil ich mit einem Verstoßenen unter einer Decke stecke. Ich atme tief ein. So tief, dass sich jeder Winkel meiner Lungen mit Luft füllt, damit ich endlich die entscheidende Frage stellen kann.
«Hast du jemals darüber nachgedacht, dass die Lotterie manipuliert gewesen sein könnte?» Ich warte auf die Regung in seinem Gesicht. Das Entsetzen über diese Frage. Den beginnenden Zweifel an einer Tatsache. Aber da ist nichts von beidem.
«Setzen dich die Challenges so unter Druck, dass du an deinem eigenen Glück zweifelst?», sagt Conrad nur in einem rauen Ton, den ich von ihm nicht kenne. Er klingt wie Mason.
In seinem Gesicht ist überhaupt keine Regung zu sehen. Ich hatte erwartet, dass ihn diese Frage aus den Bahnen wirft, weil ich glaubte, dass er sie sich noch nie gestellt hat. Aber sie überrascht ihn nicht.
«Nein. Es ist nur seltsam, dass so viele aus unserer Gegend im Vilex-System sind. Allein du, Judith und ich. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle zufällig die gleichen Zahlen tippen?» Meine Stimme vibriert vor Aufregung. Ich nippe an dem Wein.
Conrad fährt sich mit der Hand durch die dunkelblonden Haare. Danach stehen sie wild von seinem Kopf ab. Von seinem Styling ist nichts übrig geblieben.
«Jetta», beginnt er ernst, «es spielt keine Rolle. Die Lotterie ist ewig her. Das System funktioniert. Du kannst aufhören, dir den Kopf darüber zu zerbrechen, was wäre, wenn wir nicht gewonnen hätten. Wir haben gewonnen. Und es gibt niemanden, der uns das wieder wegnehmen kann.»
Ich nicke genau ein Mal. In meinem Mundwinkel regt sich das Zucken eines enttäuschten Lächelns.
«Du klingst wie ein Sekretär», murmle ich und hoffe, dass er mich nicht versteht. Zum ersten Mal seit der Einführung des Systems überfällt mich die Angst, die von Beginn an kalt in meinem Rücken gelauert hat. Was, wenn ich Conrad an das Concilium verliere?
Offen gesagt, hatte ich immer bessere Chancen direkt in das Concilium aufzusteigen. Aber er hat die Art und die Ambition, die notwendig ist, ein fernes Ziel zu erreichen. Ich werde tun, was das Concilium mir aufträgt. Conrad wird bestimmen, was das ist. Direkt oder indirekt. Das ist die Zukunft.
«Und du klingst wie ein pubertierender Teenager», hält Conrad dagegen. Wir sind quitt. «Lass uns das Thema vergessen und endlich diesen Abend genießen, in Ordnung?»
Sein flehender Blick lässt mich einknicken. Vielleicht bin ich wirklich gestresst. Aber nicht wegen der Challenges.
«Wir sollten das hier auf einen anderen Tag verschieben», sage ich kleinlaut. Conrads Augen weiten sich. «Es ist ein wirklich blöder Tag gewesen. Ich muss noch lernen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Das ist nicht fair», rede ich mich heraus.
Er zieht die Mundwinkel nach unten.
«Wenn es das ist, was du willst.» Er steht auf und reicht mir die Hand.
Es überrascht mich wenig, dass Conrad mich brav zu meinem Apartment bringt und statt zu fragen, ob er übernachten kann, mir einfach einen Kuss gibt und verschwindet. Ich tippe den Zugangscode in das Tastenfeld neben der Tür ein. Sie öffnet sich sofort und für einen Augenblick denke ich, dass es vorhin vielleicht doch nur eine kurze Störung war. Vielleicht gibt es die Geister nicht, die ich sehe.
Erschöpft werfe ich mich auf das Sofa. Aus purer Gewohnheit gleitet mein Blick hinüber zum Fenster. Erst zum Schadstoffmesser, der noch immer dunkelrot leuchtet und dann zu meinem Spiegelbild. Ich sehe jung aus. Jünger als ich tatsächlich bin und meine hellblonden Haare verleihen mir nichts von der schnittigen Eleganz, die ich eigentlich mit meinem Longbob angestrebt hatte. Conrad hat recht. Ich sehe aus wie ein trotziger Teenager. Bockig überprüfe ich den Rest meines chaotischen Spiegelbildzimmers, aber ich komme nicht weit. Meine Augen bleiben an etwas hängen, das ganz und gar nicht hierher gehört.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...