Seine dunklen Augen scannen jede Regung meines Gesichts. Eine Gänsehaut überläuft meine Arme.
Die Lotterie hat eine neue Gesellschaft hervorgebracht. In Zeiten des Chaos war es die einzige Möglichkeit für Ordnung zu sorgen.
Er macht einen Schritt auf mich zu und steht damit so dicht vor mir, dass mir sein Geruch in die Nase weht. Er riecht nach Sommer, nach Gewitter, nach Staub, der aus der Luft gewaschen wird. Aber das wusste ich bereits. Immerhin habe ich über Wochen und Monate in seinen Nacken gestarrt und die Klassenzimmer auf Modul 7 sind nicht besonders groß.
Egal, ob die Lotterie manipuliert wurde oder nicht, es hat funktioniert. Jeder hat seinen Platz. Wir leben friedlich zusammen.
«Ich», seufze ich schwerfällig, «Ich kann nicht. Ich muss für die Prüfungen lernen. Ich brauche das Stipendium, weißt du? Ich habe einfach zu viel um die Ohren.» Und außerdem erzählst du absoluten Schwachsinn.
Er presst die Kiefer zusammen. Ein langsames Nicken setzt seinen Kopf in Bewegung. Sein Blick fällt auf meinen Mund, als will er die Worte, die gerade daraus hervorgekommen sind, einfangen.
«Schade», sagt er rau und vergräbt die Hände in den Taschen seiner Hose, «Sehr schade. Du bist die Einzige, der ich es zugetraut hätte.»
«Was soll das jetzt heißen?», fahre ich ihn an. Er braucht diese Enttäuschung nicht vorspielen. Das zieht bei mir nicht.
«Deine Mom hat das System entwickelt. Ich habe sie gekannt, wenn du dich erinnerst. Sie hätte niemals gewollt, dass die Gerechtigkeit auf diese Weise hintergangen wird.» Ernsthaft? Er spielt die Bewahre-das-Erbe-deiner-Mutter-Karte? Er legt den Kopf schräg und sieht mir fest in die Augen. «Du musst nur ein paar Informationen für mich besorgen. Mehr will ich nicht. Den Rest mache ich allein und ich sorge dafür, dass dir nichts passiert.»
Mein Herz wummert in meiner Brust. Den Rest? Was hat er denn vor? Ich will gerade etwas erwidern, da klingelt es an der Tür.
«Zwei Minuten», sagt Aiden und zuckt die Schultern.
«Sekretäre», hauche ich. Mein Blick wandert zur Tür, dann zurück zu Aiden. Ich hatte noch nie Besuch von Sekretären!
Es läutet erneut. Mir wird abwechselnd heiß und kalt.
«Ich bin gleich da!», rufe ich und hoffe, dass das Metall das Zittern meiner Stimme abfängt.
Aiden muss verschwinden, aber der einzige Ausgang ist die Tür.
«Miss Palmer, öffnen Sie die Tür!», ruft einer von draußen.
«Nur einen Moment noch!» Ich greife mir das Handtuch, das ich achtlos über meine Stuhllehne geworfen habe und wickle es um meinen Kopf, als hätte ich nasses Haar. Mason hasst mein Improvisationstalent. Er meint, das Concilium würde derartiges Verhalten nicht begünstigen, weil es unberechenbar ist. Ich zerre die Türen des Kleiderschranks auf.
«Hier!», rufe ich im Flüsterton.
«Dein Ernst?» Aiden kann ein amüsiertes Grinsen nicht zurückhalten. «Das sind Sekretäre und nicht Conrad!»
«Mach schon!» Ich schiebe ihn zwischen die Kleiderbügel. Soll es doch einmal was Gutes haben, dass ich meine Sachen nie aufhänge. Mit einem Knopfdruck löse ich die Türverriegelung.
«Guten Tag», begrüße ich die Sekretäre und lege eine verwunderte Miene auf.
Die beiden nicken kurz und zwängen sich an mir vorbei in mein Apartment.
«Miss Palmer, wir wurden darüber in Kenntnis gesetzt, dass vor ihrem Fenster eine Arbeitsplattform abgestürzt ist. Können Sie uns etwas darüber sagen?»
«Wie krass ist das denn?», mache ich auf sensationslustigen Teenager. Wenn ich was von Mason gelernt habe, dann dass Sekretäre uns Schüler generell unterschätzen. «Ich bin gerade erst aus der Dusche gekommen.» Ich schaue zum Fenster hinüber und stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich Aiden hätte abstürzen sehen. Eiseskälte läuft meine Wirbelsäule hinauf.
«Ihre Fenster sind offenbar frisch gereinigt», stellt der Glatzköpfige fest, als er das Glas inspiziert.
Ich zucke die Schultern. Was interessieren mich denn geputzte Fenster. Die Aussicht ist ja sowieso immer die gleiche.
«Und Sie haben rein gar nichts bemerkt?»
«Ich war unter der Dusche», wiederhole ich. «Meinen Sie, der Arbeiter wurde schon von den Haien gefressen?»
Der zweite Sekretär, ein großgewachsener, muskulöser Modeltyp, unterbricht seine einigermaßen unauffällige Schnüffelei, um mir einen forschenden Blick zuzuwerfen.
«Nein, er konnte sich offenbar retten. Deshalb suchen wir ihn. Wir müssen ihn befragen, wie es zu dem Vorfall kommen konnte.»
Würde ein normaler Arbeiter nicht sofort nach dem Unfall eine Zentrale aufsuchen oder sich beim Medical Service melden? Dann müssten sie ihn nicht suchen.
«Interessante Fingerabdrücke haben Sie hier, Miss Palmer», sagt der Glatzkopf mit einem Lächeln in der Stimme. Er macht sich am Fensterrahmen zu schaffen. «Haben Sie das Fenster geöffnet? Ihnen ist bekannt, dass das nur in sehr speziellen Situationen erlaubt ist?»
Ja, ist mir bekannt. Zur Besteigung eines Rettungsbootes zum Beispiel. Keinesfalls zur Lüftung der Räumlichkeiten. Dafür gibt es Lüftungssysteme. Und schon gar nicht, wenn stark verseuchte Gewässerbereiche durchfahren werden. Mist! Daran habe ich gar nicht gedacht.
«Sieht mein Kollege das richtig, dass Sie das Fenster geöffnet haben, während die Glasfronten gereinigt wurden?»
Der an der Scheibe angebrachte Schadstoffmesser leuchtet dunkelrot. Wie soll ich das denn jetzt erklären?
«Mein Gott», keife ich aufgebracht, «Es wird doch wohl noch erlaubt sein, das Fenster aufzumachen, wenn man tausenddreihundert Simulationsprotokolle auswendig lernen muss.» Angriff ist die beste Verteidigung. Hoffe ich.
«Draußen herrscht Verseuchungsgrad 5, Miss Palmer», ermahnt mich das Schnüfflermodel, «Es ist strengstens verboten die Fenster zu öffnen.»
«Außerdem glaube ich nicht, dass diese Abdrücke von Ihnen stammen», meint der andere und deutet auf den klobigen Handabdruck an meiner Scheibe.
Meine Hände sind zwar ziemlich groß, aber an Aidens Größe kommen sie nicht ran. Aber es könnten genauso gut auch Conrads Hände sein.
«Was wollen Sie denn hören, meine Herren?», stöhne ich auf und werfe theatralisch die Hände in die Luft, «Dass ich einen Fensterputzer bei mir verstecke?»
«Schon möglich.» Der Scheibenknutscher tritt zwei Schritte an mich heran.
«Ja, wissen Sie, jetzt da Sie es erwähnen, fällt mir ein, dass sich tatsächlich ein Fensterputzer bei mir versteckt. Gleich da drüben im Kleiderschrank», schnaube ich mit übertriebener Ironie. Mein Herz setzt einen Schlag aus. «Am besten sehen Sie gleich nach. Bestimmt hat er mir auch die Zeit gestohlen, die ich zum Lernen verwenden wollte.» Das war zu viel. Während der Schnüffler mich perplex anschaut, geht der Scheibenknutscher energisch auf den Schrank zu. «Na, hören Sie mal!», schreie ich aufgebracht. Er fährt zu mir herum. «Wozu soll ich denn einen Nicht-Privilegierten verstecken?» Strategischer Wechsel. «Die wollen mich doch nur ausrauben, diese neidischen Trottel. Ich will mit denen absolut nichts am Hut haben.» Kopfschüttelnd platziere ich mich vor dem Schreibtisch und schlage meine Mitschriften des Tages auf. Ich muss ja noch lernen.
Die beiden Sekretäre tauschen einen schnellen Blick und gehen dann an mir vorbei zur Tür.
«Vielen Dank für Ihre Mitarbeit», knurrt der Scheibenknutscher. Dann sind sie weg.
Kaum dass das Zischen der Türverriegelung verklungen ist, springt Aiden aus dem Kleiderschrank.
«Bist du eigentlich vollkommen übergeschnappt?»
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...